Mit einer großen Demonstration ist der Protest in diesem Jahr bereits aus den Tälern des oberen Inntals nach Innsbruck geschwappt. Von Kajaksportlern, die sich in der Initiative "Wildwasser erhalten Tirol" organisiert haben, über Naturschutzverbände wie den WWF bis zu Bewohnern der Bergtäler reicht der Widerstand gegen dieses Schlüsselprojekt der Tiroler Energiestrategie, mit der das Land energieautark werden will.
Das staatliche Energieunternehmen TIWAG hat geplant, das seit 1964 betriebene Wasserkraftwerk Kaunertal um den Gepatschspeicher auszubauen: Durch ein zweites Staubecken im benachbarten Platzertal und ein neues unterirdisches Kraftwerk im Berg soll es zum Pumpspeicher werden. Um zusätzlich Strom zu produzieren, sollen durch einen 24 Kilometer langen Stollen 80 Prozent des Wassers aus den Gebirgsbächen des oberen Ötztals zugeleitet werden.
Konkurrenz ums Wasser
Gerade im Ötztal zeigt sich, wie sich die Konkurrenz ums Wasser in den Alpen zuspitzt: In diesem inneralpinen Trockental reichen die Niederschläge nicht aus. Die Gebirgsbäche, die viel Wasser aus den schmelzenden Gletschern führen, sind für die Landwirtschaft überlebenswichtig, erklärt Reinhard Scheiber, Agrarobmann im oberen Ötztal. Und auch der Tourismus mit Hotels, Seilbahnen und Kunstschnee im Winter braucht Wasser und gleichzeitig viel Energie, die wiederum aus Wasserkraft stammen. So gibt es inzwischen Planungen, eigene Kraftwerke zu bauen, um das Wasser im Tal zu behalten. Neben Landwirtschaft und Tourismus erklären im Ötztal inzwischen auch Vertreter der regierenden ÖVP ihre Ablehnung gegen das geplante Pumpspeicherkraftwerk.
Blaupause Kühtai
Natur- und Alpenschutzorganisationen kämpfen vor allem um das unberührte Platzertal, das sich auf 2.200 Meter Höhe in einer rundum unberührten Bergwelt erstreckt. Hier hat sich seit der Eiszeit ein typisches Hochtal mit mäanderndem Bach, Schwemmebenen, Mooren und Kaskaden entwickelt. Solche Hochtäler sind inzwischen selten geworden in Tirol.
Die Blaupause für den Umbau zu einem Stausee lässt sich derzeit 50 Kilometer entfernt beobachten: Seit drei Jahren wird das Längental bei Kühtai zu einem Pumpspeicherbecken für das dort existierende Kraftwerk Sellrain-Silz. 100 Tonnen Muldenkipper, gewaltige Bagger, Steinmühlen arbeiten das Hochgebirgstal in einen Stausee um. Jeden Tag wächst der zukünftige Damm derzeit um mehrere Zentimeter. Der Gemeinderat des Kaunertals war dieses Jahr zu einer Baustellenbesichtigung vor Ort. Christian Kalsberger, der Kaunertaler Bürgermeister, unterstützt das Vorhaben. Andere Mitglieder des Gemeinderats zeigen sich nachdenklicher, sie sind beeindruckt von der gewaltigen Dimension der Bauarbeiten und beschäftigen sich mit den Folgen einer vergleichbaren knapp zehnjährigen Großbaustelle für das Kaunertal. Im Verein "Lebenswertes Kaunertal" kämpfen Bewohner des Tals für den Erhalt von Kulturlandschaft und Natur, die erst vor zwei Jahren von der UN-Tourismusorganisation als weltweites Modell für nachhaltigen Tourismus ausgezeichnet wurden.
Stromverbindungen nach Bayern
Auf den Schaltplänen des Netzbetreibers TenneT in Dachau bei München blinken bereits heute die existierenden Kraftwerke in Tirol mit einem bestehenden Pumpspeicher Kühtai auf. Bei hohem Stromangebot im Netz wird dort Wasser in das obere Speicherbecken hochgepumpt, bei großer Nachfrage wird es abgelassen und Strom erzeugt. Innerhalb von drei Minuten können moderne Pumpspeicher den Betrieb umschalten und sind so flexible Ausgleichskraftwerke im Stromnetz. "Ein Juwel", so formuliert es der Leiter der Schaltzentrale. Tatsächlich werden Solarkraftwerke in Bayern immer wieder abgeregelt, weil Speichermöglichkeiten fehlen. Der Aufbau eines dezentralen und intelligenten Stromnetzes, das Erzeugung, Speicherung und Verbrauch kombiniert, wurde bisher versäumt.
Klimaschutz contra Naturschutz?
Auf Nachfrage des BR bestätigt die Tiroler Landesregierung schriftlich, dass die Pumpspeicherkraftwerke für die Energiewende in Tirol "zwingend erforderlich" seien und deshalb auch am Ausbau des Kraftwerks Kaunertals festgehalten werde. Aus Sicht der Alpenschutzverbände aber bleibt dabei der Naturschutz auf der Strecke, denn das Platzertal würde unwiederbringlich zerstört. Ein geringerer Stromverbrauch, Energieerzeugung auf ohnehin schon verbauten oder genutzten Flächen sowie andere Speichertechniken seien die Alternative. Eine gesellschaftliche Diskussion darüber finde aber nicht statt, klagen viele. Unterdessen läuft das Verfahren weiter: Bis Frühjahr 2024 muss die Tiwag nun Gutachten nachreichen. Dann soll die Umweltverträglichkeitsprüfung starten.
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