Es sind Schicksale wie das der zweijährigen Gertrud: Während der Geburt hat sie zu wenig Sauerstoff bekommen und gilt als lernbehindert. Zur Beobachtung landet das kleine Mädchen 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach. "Gertrud hat sich gut eingewöhnt, sie lacht und scherzt den ganzen Tag", heißt es in einem Schreiben an die Mutter. Wenige Wochen später ist das Mädchen tot. Die Ursache: laut Krankenakte eine masernbedingte Lungenentzündung.
Eltern schöpften keinen Verdacht
Katrin Kasparek, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bezirks Mittelfranken, hat sich zusammen mit Historiker Mark Deavin durch etliche Krankenakten und Dokumente rund um die Ansbacher Anstalt während der NS-Zeit eingearbeitet. Behandelt wurden dort Patientinnen und Patienten mit körperlicher oder geistiger Behinderung. "Die meisten Eltern haben den Nazis und Ärzten damals geglaubt. Die haben gedacht, mein Kind geht nach Ansbach und in Ansbach haben sie Spezialisten", sagt Mark Deavin, der mit vielen Angehörigen in Kontakt steht.
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Lungenentzündung durch Überdosierung herbeigeführt
Über 300 Kinder und Jugendliche nahm die Anstalt zwischen 1941 und Kriegsende auf. 187 von ihnen starben. Oft war die Todesursache, wie im Fall der kleinen Gertrud, eine angebliche Lungenentzündung. Mark Deavin und Katrin Kasparek gehen davon aus, dass diese aber oft ganz bewusst herbeigeführt worden ist. "Die Kinder und Jugendlichen, die hier getötet wurden, wurden mit dem Medikament Luminal getötet", so Katrin Kasparek. Ein Beruhigungsmittel, das bei Überdosierung zur Atemlähmung und somit dem Tod führt.
"Idiotisches Kind mit leerem Blick"
Wahrscheinlich wurde letztendlich auch Gertrud mit Luminal getötet, davon gehen die beiden Wissenschaftler aus. Während die Eltern des Mädchens in den Wochen zuvor mit positiven Berichten ruhiggestellt werden, wird in der Krankenakte vermerkt: "idiotisches Kind mit leerem Blick". Einige Wochen nach der Einlieferung findet sich dann der Vermerk, das Mädchen sei an einer maserbedingten Lungenentzündung gestorben.
"Todesermächtigungen" aus Berlin
Für das gezielte Töten sprechen viele Indizien: So bestellte Anstaltsleiter Hubert Schuch enorme Mengen Luminal nach. Allerdings nicht wie üblich in den Apotheken, sondern direkt beim Reichsausschuss in Berlin. Von dort gingen rund 80 sogenannte "Todesermächtigungen" ein – der gezielte Auftrag, bestimmte Kinder mit Einschränkungen zu töten. Dass das Personal diese auch umsetzte, belegen Quittungen für Sonderzahlungen, die die Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger direkt aus Berlin erhielten.
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Sterblichkeit sank während Urlaub der Ärztin
Neben dem Anstaltsleiter Herbert Schuch war die Ärztin Irene Asam-Bruckmüller, die Leitung der Ansbacher "Kinderfachabteilung", eine der Schlüsselfiguren. Sie war behandelnde Ärztin bei vielen der verstorbenen Kinder. Als die Mutter von zwei Töchtern in eine mehrmonatige Arbeitspause ging, ging auch die Sterberate in der Anstalt deutlich zurück.
Eltern baten aktiv um "Erlösung"
Wie viele Kinder in Ansbach genau getötet wurden, das können die beiden Wissenschaftler nicht mit Sicherheit sagen. Sie gehen aber davon aus, dass in Ansbach auch unabhängig von den Todesermächtigungen aus Berlin Kinder ermordet worden sind. "Es gab Fälle von Eltern, die ganz gezielt hier in der Anstalt nachgefragt haben, mit der Bitte, das Kind von seinem Leiden zu erlösen", sagt Katrin Kasparek.
Hirnentnahmen zu Forschungszwecken
Im Fall der kleinen Gertrud konnten sich die Wissenschaftler den Verdacht des gezielten Mordes untermauern: In den Akten fanden sie Fotos vom Gehirn des kleinen Mädchens. Keine Seltenheit, oftmals wurden die Hirne der toten Kinder für Forschungszwecke entnommen und dokumentiert, so Katrin Kasparek. Diese Fotos übergaben die beiden an einen renommierten Kinderarzt. "Er hat festgestellt, dass die Hirnaufnahmen keine Verweise auf eine Masernerkrankung enthalten", so die Wissenschaftlerin.
Ausstellung soll Angehörigen helfen
Für die Angehörigen kam der Tod des Kindes oft plötzlich. Zurückgelassen wurden sie bis heute mit vielen Fragen. Zwar wurden die Verantwortlichen wie Anstaltsleiter Hubert Schuch und Ärztin Irene Asam-Bruckmüller nach der NS-Zeit angeklagt, doch die Strafverfolgung wurde eingestellt. Sie wurden für "prozessunfähig" erklärt. Historiker Mark Deavin hofft, dass Angehörige in der Ausstellung nun Antworten finden. Die Wahrheit hinter dem Tod ihrer Familienmitglieder soll nicht länger verschwiegen werden.
Führungen können gebucht werden
Die Ausstellung "Im Gedenken der Kinder" ist noch bis zum 12. Februar 2023 im Ansbacher Markgrafenmuseum zu sehen. Thematisiert werden dort nicht nur die Gräueltaten an den Kindern in Ansbach, sondern NS-Verbrechen an Kindern aus ganz Deutschland. Im Vorfeld können Führungen gebucht werden, bei denen Katrin Kasparek Interessierte durch die Ausstellung lotst. Der Eintritt liegt bei 3,50 Euro (ermäßigt 2 Euro). Die Ausstellung ist von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet.
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