"Debakel", "schwärzester Tag", "helle Aufregung": Die Reaktionen auf die erste Pisa-Studie im Jahr 2001 waren heftig. Schülerinnen und Schüler in Deutschland hatten schlecht abgeschnitten in dieser internationalen Studie, für die 15-Jährige in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften getestet werden. Ministerien im Bund und in den Bundesländern legten Reformprogramme vor. Schulpolitik und die Sorge um das Bildungsniveau im "Land der Dichter und Denker" bestimmten die Schlagzeilen.
Dieses Mal ist es nicht so laut, bisher jedenfalls. Am Dienstag, 22 Jahre nach dem ersten Schock, wurde die neue Pisa-Studie veröffentlicht – und die Schülerinnen und Schüler in Deutschland schneiden nochmal schlechter ab als damals. Laut der internationalen Vergleichsstudie verschlechterten sich die bundesweiten Leistungen in den drei untersuchten Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz deutlich. Schwächer hat Deutschland bei Pisa nie abgeschnitten.
Söder: "Schlag ins Gesicht Deutschlands"
Das bayerische Kultusministerium reagierte erstmal zurückhaltend. Ministerin Anna Stolz (Freie Wähler) sagte der Nachrichtenagentur dpa: Die Ergebnisse ließen zunächst nur Rückschlüsse auf Deutschland zu, nicht auf Bayern. Ähnlich äußerte sich Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bei seiner Regierungserklärung im Landtag: Er sprach von einem "Schlag ins Gesicht Deutschlands". In den regionalen Vergleichen stehe Bayern aber "sicherlich deutlich besser da". Söders Rede dominierten andere Themen.
Zur Frage, was genau aus der Pisa-Studie für Bayern folgt, kommen bisher eher allgemeine Aussagen. Die zuständige Ministerin Stolz verspricht auf BR24-Anfrage, man werde "mehr Zeit für die pädagogische Arbeit und die Konzentration auf die Basiskompetenzen" ermöglichen. Bestehende Maßnahmen sollen ausgebaut werden, dazu "Neues geschaffen". Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund solle noch mehr beim Lesenlernen geholfen werden. "Wer gut Deutsch spricht, tut sich in der Schule leichter."
Zwar betont Stolz erneut, dass Bayern im Vergleich mit anderen Bundesländern besser dasteht: "Beim kürzlich erschienenen IQB-Bildungstrend, der ebenfalls bundesweit sehr schlechte Leistungen attestierte, belegte Bayern einen Spitzenplatz." Eines aber mache ihr Sorgen: "Auch in Bayern gehen die Leistungen insgesamt zurück."
BLLV-Präsidentin Fleischmann sauer: "Brauchen endlich Taten!"
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) reagiert auf die neue Pisa-Studie ziemlich wütend. "Kann das angesichts von Lehrkräftemangel und den Lerndefiziten seit Corona – die noch lange nicht überwunden sind – irgendwen wundern?", fragt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. "Es reicht jetzt mit den Analysen. Wir brauchen endlich Taten! Und wir müssen auch mal klar nach den Ursachen fragen, auch wenn wir die meisten längst kennen."
Hauptgrund für das schlechte deutsche Pisa-Abschneiden ist laut Fleischmann, dass es zu wenig Lehrerinnen und Lehrer gibt: "Wir sind zu wenige! Wir können nicht individuell fördern! Und es kommt auf die Qualifikation der Lehrkräfte an!" Neben einer "top Ausbildung" brauche es generell bessere Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte. "Was wir nicht brauchen sind 26 Kinder in einer Klasse, die alle die gleiche Schulaufgabe schreiben", betont die BLLV-Präsidentin.
Fleischmanns Fazit: "Jede Lehrerin und jeder Lehrer und alle, die an einer Schule vor den Kindern und Jugendlichen stehen, wissen, woran es krankt. Nur die Verantwortlichen haben sich in 23 Jahren Pisa anscheinend keine Gedanken über das 'Warum' gemacht."
Grünen-Schulpolitikerin: "Wir brauchen mehr"
Scharfe Kritik kommt gleich am Dienstag auch aus der Opposition im Bayerischen Landtag. "Die Pisa-Ergebnisse spiegeln schonungslos unser veraltetes, verkrustetes bayerisches Schulsystem wider", sagt die bildungspolitische Sprecherin der Landtags-Grünen, Gabriele Triebel. Laut ihr hätte die Söder-Regierung in Bayern früher gegensteuern müssen. "Wir brauchen mehr Lehrkräfte und modernen Unterricht, eine gute Ganztagsbildung und multiprofessionelle Teams."
Dass viele Kinder und Jugendliche in Deutschland beim Lesen vergleichsweise schlecht abschneiden, besorgt Michael Schwägerl, den Vorsitzenden des bayerischen Philologenverbandes. Gut lesen zu können sei die Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn, das spätere Berufsleben und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Auch Schwägerl drängt die Politik: "Genaues Hinschauen und Handeln sind das Gebot der Stunde."
Zur Wahrheit gehört aber auch: Verglichen mit anderen OECD-Ländern fällt Deutschland nicht besonders ab. Bei Mathematik und Lesekompetenz waren die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler in der Pisa-Studie nahe am Durchschnitt der OECD-Staaten, im Bereich Naturwissenschaften sogar etwas darüber.
Grafik: Hauptergebnisse der Pisa-Studie 2022
Lehrermangel und Schulschließungen während Corona
Mit Blick auf den Lehrermangel betont eine Sprecherin des Kultusministeriums, schon zu diesem Schuljahr seien insgesamt rund 3.700 Lehrkräfte eingestellt worden. "Bis 2028 werden wir insgesamt 9.000 weitere Stellen im Schulbereich schaffen: 6.000 neue Lehrerstellen und 3.000 neue Stellen für multiprofessionelle Unterstützungskräfte wie Verwaltungsangestellte, Sozialpädagogen und Schulpsychologen." Auch die Möglichkeiten zum Quereinstieg sollen ausgeweitet werden.
Was sind weitere Gründe für das schlechte Pisa-Abschneiden, neben dem bekannten Lehrkräftemangel? Die Autoren der Studie nennen die Schulschließungen während der Corona-Pandemie. Gemeint sein dürften Wissenslücken, aber auch generell weniger Konzentrationsfähigkeit bei Kindern, die teils lange ohne Betreuung und mit viel Bildschirmzeit zuhause waren. Die Studien-Autoren schränken aber ein: Der Negativtrend existiere in Deutschland schon länger, zudem gebe es keine eindeutigen Leistungsunterschiede zwischen Ländern mit kurzen und langen Schulschließungen.
Welche Rolle spielt die Ablenkung durchs Smartphone?
Auch die Disziplin in der Schule sei eine Ursache, betonen die Pisa-Autoren. Die Smartphone-Nutzung sei zu einem Problem geworden.
In Bayern entscheiden die weiterführenden Schulen selbst, wie ihre Schülerinnen und Schüler das Smartphone außerhalb des Unterrichts nutzen dürfen. "Somit werden die Regeln für die private Handynutzung außerhalb des Unterrichts gemeinsam von der Schulfamilie festgelegt", sagt die Ministeriumssprecherin. Ein generelles Verbot über alle Schularten hinweg sei "nicht zeitgemäß".
"Die Fachkräfte von morgen"
Unterdessen mahnen auch Wirtschaftsvertreter in Bayern, aus den Pisa-Ergebnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen. "Unsere Kinder und Jugendlichen sind die Fachkräfte von morgen", heißt es von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. "Wir müssen ihnen schulartübergreifend hochwertige und individualisierte Bildungsangebote zur Verfügung stellen, damit wir als Bildungs- und Wirtschaftsstandort langfristig international wettbewerbsfähig bleiben."
Ministerpräsident Söder will künftig "wieder richtige Schwerpunkte für die Grundschule setzen" – auf Rechnen, Schreiben und Lesen. Ob im Umkehrschluss aktuell die falschen Schwerpunkte gesetzt werden, sagte Söder in seiner Regierungserklärung nicht. Er kündigte nur an: "Dafür muss halt manch anderes etwas zurückweichen." Zuletzt hat das bayerische Kabinett beschlossen, dass alle Kinder in Bayern vor dem letzten Kindergartenjahr einen Sprachtest machen müssen – um im Zweifel rechtzeitig besser deutsch zu lernen. Für das kommende Schuljahr 2024/2025 soll das Konzept dafür stehen.
Mit Informationen von dpa
Im Video: Deutsche Schülerinnen und Schüler haben bei der internationalen Pisa-Studie schlecht abgeschnitten
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