Wer regelmäßig mit einer Regionalbahn unterwegs ist, kennt es wahrscheinlich. Plötzlich ist Schneckentempo angesagt. In Bahndeutsch: Langsamfahrstelle. Trifft ein Zug auf eine dieser sanierungsbedürftigen Stellen, bremst er ab auf bis zu 20 Kilometer pro Stunde. Erst, wenn die Stelle passiert ist, darf der Lokführer wieder Fahrt aufnehmen. Häufig sorgen diese Tempodrosselungen für Verspätungen. Gibt es auf der Strecke gleich mehrere Langsamfahrstellen, summiert es sich schnell auf mehrere Minuten.
Im Mai dieses Jahres hat es bundesweit etwa 80 solcher Langsamfahrstellen gegeben. Der Grund: Baustellen oder Schwachstellen im veralteten Schienennetz. Der Investitionsstau bei der Bahn beträgt mittlerweile knapp 50 Milliarden Euro, sagen Experten.
Mehr Langsamfahrstellen seit Zugunglück in Garmisch?
In Bayern gibt es aktuell besonders viele Langsamfahrstellen. Norbert Moy vom Fahrgastverband Pro Bahn sagt, die Zahl sei seit dem Zugunglück in Garmisch Anfang Juni in die Höhe geschnellt. "In den Tagen nach dem Unfall waren an verschiedenen Stellen Strecken gesperrt. Unter anderem mit Garmisch dann auch Oberammergau. Und auch die Strecke zwischen Weilheim und Tutzing war gesperrt."
Und tatsächlich: Ein internes Dokument der Deutschen Bahn, das dem Politikmagazin Kontrovers vorliegt, belegt, dass nach dem Zugunglück 41 Langsamfahrstellen in Südbayern eingerichtet wurden. Eine Vorsichtsmaßnahme, weil das Schienennetz so veraltet ist? Die detaillierten Fragen, die Kontrovers dazu an die Deutsche Bahn richtet, werden nur mit einer allgemeinen Stellungnahme beantwortet: "Die DB investiert mit Bund und Ländern so viel wie nie in die Modernisierung sowie den Neu- und Ausbau des Streckennetzes."
Kritik von Landtagsopposition
Auch der Landtagsabgeordnete und Bahnexperte der Grünen Markus Büchler spricht von einem prähistorischen Stand auf dem sich die Bahn in Bayern befindet: "Man kann es festmachen an veralteter Infrastruktur, an veralteter Steuerungs- und Signaltechnik, die teilweise noch aus den 60er Jahren stammt. Teilweise sogar noch aus dem Königreich stammt mit mechanischen Stellwerken und Signalanlagen." Das Schienennetz müsse dringend ins 21. Jahrhundert gehoben werden, um einen attraktiven Zugverkehr mit dichter Taktfolge anbieten zu können.
Zugverkehr hatte jahrzehntlang keine politische Priorität
Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? In der Kritik stehen Union und SPD gleichermaßen. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder galt in seiner Amtszeit als Freund der Automobilindustrie, so mancher CSU-Verkehrsminister ließ sich für den Bau neuer Straßen feiern. Die Sanierung der Gleise blieb auf der Strecke. Grünen-Politiker Büchler kritisiert, dass seit der Bahnreform in den 90er Jahren viel zu wenig Geld in das System Schiene gesteckt worden sei. "Damit haben wir einen riesigen Sanierungsrückstand aufgebaut, auch im Vergleich zu anderen Ländern wie Österreich oder der Schweiz."
Tatsächlich monierte der Bundesrechnungshof im vergangenen Jahr beispielsweise, dass 124 Millionen Euro, die für den Erhalt des Schienennetzes vorgesehen waren, vom Verkehrsministerium für Straßen und Flughäfen zweckentfremdet wurden.
Verkehrsminister Wissing verspricht Modernisierung bis 2030
Dass es so nicht weitergehen kann, ist mittlerweile auch in der Politik angekommen. Am Mittwoch konstatierte Verkehrsminister Volker Wissing auf der Bundespressekonferenz, die Bahn "wurde jahrelang vernachlässigt, und durch eine Unterfinanzierung und politische Versäumnisse an ihre absolute Grenze gebracht." Und auch Bahnchef Richard Lutz zeigte sich selbstkritisch: "Die aktuelle Qualität und Zuverlässigkeit des Schienensystems ist für niemanden akzeptabel."
Wissing erklärt die Sanierung der Bahn jetzt zur Chefsache. Bis 2030 soll sie großflächig modernisiert werden. Für Arnulf Schuchmann, den Chef der Bayerischen Regiobahn, sind das nur Lippenbekenntnisse. Er glaubt nicht, dass sich grundlegend etwas ändern wird. "Es sind schöne Worte, wie schon die letzten Jahre und Jahrzehnte. Ich wünsche mir, dass der politische Wille als Unterstützung des Vorstands und des Managements der Bahn auch wirklich da ist.“
Im Jahr 2024 soll die Generalsanierung besonders belasteter Strecken zum "Hochleistungsnetz" beginnen.
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