Wenn Sabine Asum morgens in ihren Putenstall geht, kommen die Tiere normalerweise fröhlich auf sie zugelaufen. Tun sie das nicht, ist das ein klares Signal, dass etwas nicht stimmt. So war es vor einigen Wochen. Sabine Asum hatte neue Küken bekommen. Einen Tag alt.
"Die Küken haben eine Dottersackentzündung gehabt, und da hat man keine andere Chance! Entweder es versterben alle Tiere oder man setzt ein Medikament ein." Sabine Asum, Putenmästerin
Metaphylaxe - nicht nur das kranke Einzeltier wird behandelt
Sabine Asum hält 19.000 Puten in drei Ställen. Alle 15 Wochen kommen neue Küken auf den Hof. Die Landwirtin mästet sie mit Getreide von den eigenen Feldern, der Stall hat eine Fußbodenheizung, dreimal am Tag geht sie durch den Bestand. Trotzdem muss sie immer wieder Antibiotika einsetzen. In diesem Fall wurden alle Puten behandelt. Das wird als Metaphylaxe bezeichnet.
"Wenn wir feststellen, dass der Bestand krank ist, selektieren wir die Tiere natürlich aus, beobachten die Selektierten und auch die komplette Herde. Aber dann muss man einfach die Herde behandeln, weil in so einem Bestand die Ausbreitung rasend schnell ist. Da muss man dann einfach handeln." Sabine Asum
Antibiotika-Minimierungsstrategie der Bundesregierung
In Deutschland wurden 2018 722 Tonnen Antibiotika an Masttiere abgegeben. Zu Beginn der Datenerfassung 2011 waren es mehr als doppelt so viel: 1.700 Tonnen. Es hat sich also durchaus etwas getan durch die Antibiotika-Minimierungsstrategie der Bundesregierung. Seit 2014 schreibt das Arzneimittelgesetz vor, den Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung auf das therapeutisch unverzichtbare Mindestmaß zu reduzieren.
Jeder landwirtschaftliche Betrieb ab einer gewissen Größe muss halbjährlich melden, wann, wie lange und welche Antibiotika er seinen Tieren gegeben hat.
- Am stärksten ging der Antibiotika-Einsatz in der Schweinemast zurück: Hier wurden 2017 über 40 Prozent weniger Antibiotika eingesetzt als 2014.
- Wenig Veränderung gibt es dagegen im Geflügelbereich: Bei Mastputen ging der Antibiotika-Einsatz nur um vier Prozent zurück, bei Masthähnchen nur um ein Prozent.
Der nur geringfügige Antibiotika-Rückgang in der Geflügelhaltung liegt laut Dirk Zimmermann von Greenpeace an den Haltungsbedingungen:
"Grundsätzlich ist es im Moment so, dass wir Tiere in großen Gruppen halten. Wenn es dann zu Krankheiten kommt, wird eben auch gerne der ganze Bestand behandelt mit der Ansage, dass morgen sowieso alle Tiere krank sein werden, was vielleicht zum Teil sogar stimmt." Dirk Zimmermann, Greenpeace
Aber nicht alle Antibiotika-Gaben in der Nutztierhaltung werden erfasst - bei Milchkühen oder Zuchtsauen etwa. Dabei sind auch hier Behandlungen mit Antibiotika üblich. Auch dadurch besteht das Risiko, dass im Stall antibiotikaresistente Keime entstehen.
Mehr Einsatz von Reserve-Antibiotika
Und noch ein großes Problem gibt es: Während die Menge der klassischen Antibiotika in der Tiermast insgesamt zurückgegangen ist, hat die Verschreibung der sogenannten Reserve-Antibiotika zugenommen. Reserve-Antibiotika sind Wirkstoffe, die nur im Ausnahmefall eingesetzt werden sollen, wenn bei einer Infektion kein anderes Antibiotikum mehr hilft.
Resistente Keime können über Gülle in die Umwelt gelangen
In den vergangenen Monaten sind Greenpeace 15 Gülle-Proben aus Schweineställen in ganz Deutschland zugespielt worden. Das Ergebnis: 80 Prozent enthielten Bakterien mit Resistenzen gegen Antibiotika. Und in elf von 15 Fällen wurden sogar Keime mit einer Resistenz gegen das Reserve-Antibiotikum Colistin gefunden.
Alois Tenhagen vom Bundesinstitut für Risikobewertung schätzt die Antibiotika-Gaben in der Tierhaltung kritisch ein - im Hinblick auf uns alle.
"Das Problem ist, wenn in der Tierhaltung resistente Keime entstehen, dass diese Keime natürlich auch zum Menschen gelangen können. Wir möchten, dass diese Substanzen wenig eingesetzt werden, damit wenig resistente Keime in der Tierhaltung entstehen und damit auch wenig zu der Problematik in der Humanmedizin beigetragen wird." Alois Tenhagen, Bundesinstitut für Risikobewertung
"Verbreitung von Resistenzen maximal reduzieren ..."
In Deutschland sterben jedes Jahr schätzungsweise bis zu 15.000 Menschen an multiresistenten Keimen. Welchen Anteil der Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung daran hat, ist schwer zu beziffern.
Aber: Mit jedem Eintrag von resistenten Keimen in Gewässer oder Böden, wachse das Reservoir an Antibiotika-Resistenzen in der Umwelt, sagt Dirk Zimmermann von Greenpeace.
"Genau deswegen haben ja die Proben, die wir analysiert haben, eine hohe Aussagekraft. In der Gülle wird so schnell keiner wegdiskutieren, dass diese Resistenzen tatsächlich aus dem Stall kommen. (…) Da muss das Ziel sein, auf allen Fronten die Resistenzbildung, die Verbreitung von Resistenzen maximal zu reduzieren." Dirk Zimmermann
Tierschutzbund übt Kritik an Haltungsform und Hochleistungszucht
Fest steht: Kranke Tiere müssen mit wirksamen Medikamenten behandelt werden können – dazu gehören auch Antibiotika. Auf Biegen und Brechen den Einsatz von Antibiotika herunterzufahren funktioniert nicht, solange sich an der Haltungsform der Tiere nichts ändert. Dass nichttiergerechte Ställe, aber auch die Zucht auf Hochleistung wichtige Ursachen für die Krankheitsanfälligkeit von Nutztieren sind, kritisiert auch der Deutsche Tierschutzbund:
"Antibiotika dürfen aus Tierschutzsicht nicht länger eingesetzt werden, um Systemmängel zu vertuschen. Die Mengen zu senken ist möglich, primär durch die Optimierung der Haltungsbedingungen. Dazu gehören beispielsweise eine Verringerung der Tierzahl sowie der direkte Kontakt zum Außenklima, der für die Tiergesundheit essentiell ist. Weiterhin gehört dazu eine robustere, weniger leistungsorientierte Zucht." Deutscher Tierschutzbund
Trotz deutlicher Erfolge, Antibiotika-Gaben in der Tierhaltung in den vergangenen Jahren zu senken: Handlungsbedarf besteht insbesondere in der Geflügelmast. Wer Geflügelfleisch in der Küche verarbeitet, sollte besonders auf Hygiene achten. Denn hier können resistente Keime auf den Menschen übertragen werden.
Hörtipp Bayern 2, Notizbuch, 14.05.2020:
Wie können Human- und Tiermedizin an einem Strang ziehen?
Gespräch mit der Humanmedizinerin Dr. Béatrice Grabein, Ludwig-Maximilians-Universität, und Dr. Siegfried Moder, Bundesverband praktizierender Tierärzte