Rainer Dietl wird vom Scheinwerferlicht der Sprinter geblendet – am Pendlerparkplatz im niederbayerischen Bogen weist er ein Fahrzeug nach dem anderen ein, bis alle in einer Reihe stehen. Zehn Fahrzeuge, 20 Helfer, ein Ziel: Uschgorod in der Ukraine. "Wir lassen uns Zeit. Ich wünsche uns eine gute Fahrt, dass wir wieder gut zurückkommen."
Das ist das Zeichen – die Sprinter rollen am frühen Abend in die Dunkelheit. Geladen sind insgesamt 700 Weihnachtspakete mit Kleidung und Lebensmitteln, sechs Stromaggregate und mobile Ladegeräte: alles für die Menschen in der Ukraine.
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Helfer kommt mit ukrainischem Pflegekind zurück
Rainer Dietl, ein 53-jähriger Bäckermeister aus Elisabethszell im Landkreis Straubing-Bogen, will helfen. Er schließt sich mit der Regensburger Hilfsorganisation Space-Eye und dem TeilKreis Straubing zusammen, ruft eine Weihnachts-Aktion für Ukrainer ins Leben und sammelt dafür Spenden und Pakete – zum neunten Mal fährt er jetzt ins Kriegsgebiet.
Als im Februar der Krieg ausbrach, fuhr er bereits Hilfsgüter in die Ukraine – und kam mit dem 17-jährigen Ukrainer Ruslan auf dem Beifahrersitz zurück. Seine Mutter konnte noch nicht ausreisen, wollte ihren Sohn aber in Sicherheit wissen. Dietl nimmt ihn bei sich auf – Ruslan ist seitdem sein Pflegekind.
Bei der aktuellen Fahrt in die Ukraine wollte Dietl nicht nur Weihnachtspakete abgeben, sondern auch die Mutter seines Pflegekinds mit nach Deutschland nehmen.
Überflutungen und Schlaglöcher behindern die Fahrt
Doch der Weg in die Ukraine ist nicht einfach, berichten die Helfer rund um Rainer Dietl später. Sie fahren die ganze Nacht durch, vorbei an überfluteten Bächen, Grenzkontrollen, aufgetürmten Sandsäcken und auf holprigen, von Schlaglöchern übersäten Straßen. Doch sie alle wissen, warum sie die anstrengende Fahrt auf sich nehmen: "Helfen ist für mich das A und O, ich bin auch bei der Feuerwehr", meint Helfer und Feuerwehrler Richard Hartl. "Es ist so eine tolle Gesellschaft, die sich bei dem Sauwetter auf den Weg macht in die Ukraine, weil es andere nicht so warm haben wie wir", sagt Michael Buschheuer von Space-Eye.
Ankunft nach zehn Stunden Fahrt
Mehr als zehn Stunden dauert die Fahrt ins gut 1.000 Kilometer entfernte Uschgorod, das direkt an der slowakischen Grenze liegt. Dietl und seine Helfer berichten, dass sie die Menschen in den Schulen und Heimen dort schon erwartet haben. Nach seiner Rückkehr erzählt Dietl, dass er von den Kindern umarmt wurde, eine Frau habe für ihn als Dank die ukrainische Hymne angestimmt. Er sei zu Tränen gerührt gewesen, sagt der 53-Jährige.
"Kriegsbewältigung" für Grundschüler
Rückblick: Ein paar Wochen zuvor packen Kinder an bayerischen Schulen Pakete für Dietls Weihnachts-Aktion: Milch, Reis, Mehl, Öl oder Zahnpasta kommen rein. "Weil da so viel Krieg ist", meint ein Junge. "Wir wollen ihnen Freude machen, weil sie nichts zu essen haben und sie sonst verhungern", erklärt ein Mädchen. "Die Ukrainer sollen sich mit unseren Paketen wohlfühlen, dass sie in Ruhe und Frieden weiterleben können", ergänzt ein anderes Mädchen. Rainer Dietl holt die Pakete ab, ist von der Unterstützung überwältigt, wie er damals sagt: "Das geht mir nahe, vor allem, weil die Kinder anderen Kindern und Familien helfen wollen."
Die Weihnachts-Aktion ist für die Grundschüler auch eine Art Bewältigung des Kriegs, meint Lehrerin Tatjana Steininger-Nelz: "Weil wir gemerkt haben, dass die Kinder ganz ganz großen Aufklärungsbedarf haben und darüber sprechen wollen – deswegen haben wir gesagt: Wir müssen uns daran beteiligen, als wir das gelesen haben."
"Ich mache das wirklich gerne"
Als er schließlich in Uschgorod die Pakete der Grundschüler übergeben konnte, habe er die Gelegenheit genutzt, mit den Menschen in der Ukraine auch über seinen Beweggrund für die Hilfs-Aktion zu sprechen, berichtet Dietl später: "Ich mache es wirklich gerne. Seit sechs Monaten habe ich einen ukrainischen Pflegesohn, der mir sehr ans Herz gewachsen ist."
Fliegeralarm im Kriegsgebiet
Als Dietl und seine Helfer die Pakete verteilten, heulten im Hintergrund Sirenen auf: Fliegeralarm. Wie Dietl im Nachhinein erzählt, war das ein "brutaler Moment": "Wenn du die Geschenke hergibst und gleichzeitig ertönt der Fliegeralarm, dann weißt du nicht: Machst du weiter oder nicht? Für die Menschen dort ist es fast zur Normalität geworden, für uns ist das ein Wahnsinn." Sie sind im Kriegsgebiet – bewusst wird ihnen das nicht nur während des Fliegeralarms, sondern auch beim Essen im Bunker mit Taschenlampen, ohne Strom.
Mutter und Sohn sicher vereint
Dietl und die anderen Helfer bleiben eine Nacht in der Ukraine – bis alle 700 Pakete verteilt sind und die Stromaggregate laufen. Doch der 53-Jährige fährt nicht mit einem leeren Sprinter zurück nach Niederbayern, zu seinem ukrainischen Pflegekind Ruslan, der zuhause in Elisabethszell auf ihn wartet. Neben Dietl im Sprinter sitzt bei der Heimfahrt Ruslans Mutter. Sie kann endlich aus der Ukraine ausreisen und zu ihrem Kind nach Deutschland kommen. Nach der Rückkehr gibt es ein emotionales Wiedersehen: Der 17-jährige Ruslan fällt seiner Mutter um den Hals – viele Worte brauchen sie nicht. Sie wissen: Sie sind wieder vereint, in Sicherheit und haben ein Zuhause bei Rainer Dietl.
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