Valentina Rapp erlebte ihre erste Anfeindung bei einem Spaziergang mit ihrer Tochter am Chiemsee. "Ich habe zu meiner Tochter auf Russisch gesagt, dass sie nicht so schnell laufen soll und in dem Moment haben sich Spaziergänger umgedreht und gesagt: überall nur Russen." Das habe sie getroffen. Im Moment fühle es sich so an, als ob alle russischsprachigen Menschen in einen Topf geworfen und als böse dargestellt würden.
Russischsprachig ist nicht gleich russisch
In letzter Zeit musste die Friseurmeisterin aus Traunreut oft ihre Herkunft erklären. Ihre Kunden wollten etwa die nächsten Entscheidungen Wladimir Putins von ihr erfahren. "Ich musste dann erst erklären, dass ich mit 13 Jahren nach Deutschland gekommen bin, ursprünglich aus Kirgistan komme, und mit Russland gar nichts zu tun habe", sagt sie.
Bisher gab es in ihrem Umfeld bis auf ein paar Konfrontationen zwischen Schulkindern keine offenen Aggressionen oder Gewalt. Doch ihre Herkunft nutzt sie inzwischen als Schutz. "Mittlerweile sage ich, dass ich aus Kirgistan komme und verschweige bewusst, dass es mal zu Russland gehört hat." Valentina Rapp ist eine von mehreren Tausend Deutschen aus Russland und den früheren Teilrepubliken, die in Traunreut leben, der zweitgrößten Stadt im Landkreis Traunstein.
Angst vor Vertreibung wieder aktuell
Vor der Rente arbeitete Galina Kopp in der Migrationsberatung und ist daher gut in der Stadt vernetzt. Sie berichtet von der tief sitzenden Angst unter den Russlanddeutschen, die jetzt plötzlich wieder hochkomme. "Wahrscheinlich ist es ein genetisches Gedächtnis. Ihre Vorfahren hatten damals einen russischen Pass und trotzdem wurden sie 1941 vertrieben", sagt Galina Kopp.
Nun befürchteten viele aus der älteren Generation, dass sie wieder aus Deutschland vertrieben werden, falls sich der russische Angriffskrieg weiter nach Westen ausbreitet. Besonders in den sozialen Medien kursierten Gerüchte wie diese und verunsicherten die Menschen enorm, sagt Galina Kopp.
Freundschaften zerbrechen
Bei vielen Russlanddeutschen in Traunreut sind auch die russischen Staatsmedien beliebt, bestätigen mehrere Quellen aus der Community. Je nachdem welche Medien konsumiert werden und welche Meinungen vorherrschen, kommt es auch innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft zu Spannungen.
Die Traunreuterin Anastasia Geiger kommt ursprünglich aus dem Uralgebirge und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Seit Kriegsbeginn sind ihre Freundschaften zu manchen Ukrainern schwierig geworden. Und auch in ihrem Umfeld nimmt sie Konflikte wahr. "Zuerst waren Menschen Freunde und auf einmal hassen sie sich", sagt sie.
"Innerlich total zerrissen"
Neben mehreren Tausend Russlanddeutschen leben rund 800 Personen mit russischer Staatsbürgerschaft in Traunreut. Galina Kopp ist eine von ihnen. Sie ist in Sibirien geboren und hat einen Teil ihrer Kindheit in der Ukraine verbracht. Ihr Sohn lebt in Moskau, ihr Bruder auf der Krim, sie hat viele Freunde in der Ukraine und in Russland. "Innerlich bin ich total zerrissen", sagt sie.
Sie wolle beide Seiten verstehen. Doch mit ihren deutschen Freunden seien die Diskussionen sehr anstrengend, denn sie wollten nur eine Meinung hören. Mit ihren russischsprachigen Freunden könne sie dagegen offener diskutieren, um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte.
Konflikte mit Geflüchteten vorprogrammiert?
Auch der Kfz-Meister Wassilji Gorn, selbst Kasachstan-Deutscher, meidet momentan Diskussionen mit Freunden und Bekannten über den Krieg. Die Meinungen seien sehr verschieden und jeder sei jetzt dünnhäutig. Was ihn aber viel mehr besorgt: das künftige Zusammenleben mit Geflüchteten aus der Ukraine.
Er befürchtet Auseinandersetzungen zwischen russischsprachigen Gruppen und Ukrainern. Er hofft trotzdem, dass ungeachtet der Herkunft der Mensch im Vordergrund steht und nicht die kriegsführende Partei.
- Zum Artikel: Boykotts, Hass und Häme – Russen immer mehr unter Druck
💡 Hintergrund: Das Schicksal der Russlanddeutschen
Laut Informationen des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland (BKDR) wurden schon ab den 1760er-Jahren Deutsche von Russland angeworben, um russische Steppengebiete zu erschließen. Allein im unteren Wolga- und Schwarzmeergebiet lebten knapp 800.000 Deutsche. Die Nachkommen dieser Immigranten werden als Russlanddeutsche bezeichnet und stellen die überwältigende Mehrheit sogenannter Spät-Aussiedler dar, die nach Deutschland ausgewandert sind.
Im Ersten und Zweiten Weltkrieg richtete sich der Kampf gegen alles Deutsche auch verstärkt gegen die Kolonisten aus Deutschland. Schließlich führte der Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu einer totalen Verbannung deutscher Sowjetbürger aus dem europäischen Teil der Sowjetunion.
Dem BKDR zufolge wurden bis Ende 1941 rund 800.000 Russlanddeutsche enteignet und nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Hunderttausende Frauen, Jugendliche und Männer wurden zur Zwangsarbeit in die sogenannte Arbeitsarmee eingezogen, viele davon überlebten die harte Arbeit im Gulag nicht.
Etwa 340 000 Sowjetdeutsche, hauptsächlich in der Ukraine, gerieten im zweiten Weltkrieg unter deutsche und rumänische Besatzung. Nach Kriegsende wurde ein Großteil von ihnen in die Sowjetunion zurückgeholt. Dem Rest gelang es, in den westlichen Besatzungszonen unterzutauchen. Viele kamen auch noch nach dem Ende der Sowjetunion als Spätaussiedler nach Deutschland. Heute besitzen viele von ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft.
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