Die Alpinpolizei Tirol sucht derzeit nach einem Skitourengeher, der offenbar Unfallflucht begangen hat – am höchsten Berg der Stubaier Alpen, dem 3.507 Meter hohen Zuckerhütl. Der Mann soll bei einem Sturz in der schneebedeckten Gipfelrinne am ersten April-Wochenende vier Alpinisten mitgerissen haben. Dann soll er sich vom Unfallort entfernt haben, ohne Erste Hilfe zu leisten. Die Mitgerissenen wurden zum Teil verletzt und mussten per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden. Falls sich die Vorwürfe bewahrheiten, wäre das ein verantwortungsloses Verhalten.
Notfall am Berg: Vom Gebot der Solidarität
Für Entsetzen sorgte auch ein Vorfall letzten Sommer am zweithöchsten Berg der Welt, dem 8.611 Meter hohen K2 im Karakorum. Rund 100 Höhenbergsteiger waren am 27. Juli 2023 an dem verletzten Hochträger Mohammed Hassan vorbei Richtung Gipfel geklettert, ohne ernsthaft Hilfe zu leisten. Hassan starb daraufhin in der Todeszone.
Angesichts solcher Vorfälle kann man fragen, ob es auf dem Berg immer egoistischer zugeht. Nein, sagt Stefan Winter, Ressortleiter Breitenbergsport beim Deutschen Alpenverein. Trotz solcher erschreckender "Einzelfälle" könne man keinen Trend hin zu unsolidarischem Verhalten im Gebirge entdecken. Die seit jeher geltenden besonderen Gebote würden im Alpinismus weiterhin gelten, so Winter. Das bedeutet: In wilder Natur gibt es eine besondere Selbstverpflichtung, sich moralisch zu verhalten. Ganz konkret heißt das, wenn möglich Erste Hilfe zu leisten und die eigenen Interessen – wie zum Beispiel eine Gipfelbesteigung – hintan zu stellen.
Verantwortung übernehmen für sich und andere
Alpine Solidarität ist nicht nur lebensrettend, sondern auch ein hohes Gut, findet Bergsteiger und Theologe Knut Waldau. Statt an die vielbesungene Bergkameradschaft – ein Begriff, der im Nationalsozialismus ziemlich strapaziert wurde – appelliert er an die Verantwortung jedes Einzelnen. Verantwortung zu übernehmen, das könne man in den Bergen gut lernen. Wenn man zu dritt oder viert unterwegs ist, hat man die Verantwortung für die Gesundheit und bei schweren Touren auch für das Leben von sich selbst und den Begleitern. Wer schon selbst einmal am Berg in Not geraten ist und auf Hilfe angewiesen war, der erfährt hautnah, was Solidarität bedeutet. Und wird sich auch im Tal noch daran erinnern, glaubt Ulrike Wilhelm, Bergsteigerin und evangelische Pfarrerin aus Garmisch-Partenkirchen.
"Die Berge sind gute Lehrmeister in Sachen Demut. Und mit Demut meine ich nicht Unterwürfigkeit, sondern realistische Selbsterkenntnis: Dass meine Macht und mein Können immer nur begrenzt sind. Und dass ich angewiesen bin auf andere. Da kann das Bergsteigen eine gute Schule auch fürs Leben insgesamt sein". Ulrike Wilhelm, evangelische Pfarrerin Garmisch-Partenkirchen
Gebote für den Bergsport
Dankbarkeit, Vertrauen, Verantwortung, Gemeinsinn. Alles Werte, die man in den Bergen mit allen Sinnen erleben lernen kann. Denn hier muss jeder Tritt sitzen, das letzte Stück Brot geteilt werden und manchmal auch die letzte Kraft. "Das Können des Schwächsten sei der Maßstab", schrieb Bergsteigerlegende und Regisseur Luis Trenker in seinen zehn Bergsteiger-Geboten vor knapp 100 Jahren.
2002 veröffentlichten die Alpenvereine weltweit die sogenannte Tirol Deklaration, in der sie ethische und moralische Grundsätze des Bergsports festlegen. Darunter auch Werte wie Verantwortung und Teamgeist. Gesetze, Kodizes und Erklärungen aber allein reichen nicht, meint Knut Waldau, der beim Bistum Augsburg Bergexerzitien organisiert. Letztlich könne man nur darauf hoffen und vertrauen, dass Menschen, die in die Berge gehen, sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst sind.
Notruf 112 ersetzt nicht Solidarität am Berg
Heute kann man selbst im hintersten Winkel der Berge die 112 anrufen. Roland Ampenberger von der Bergwacht Bayern erinnert aber daran, dass sich die Bergsteiger dadurch nicht aus der Verantwortung stehlen dürfen und mithelfen, die Bergungsmaßnahmen so gering wie möglich zu halten, ohne sich dabei selbst zu gefährden – zum Beispiel in der nächsten Hütte Bescheid zu geben, wenn eine Lawine abgegangen ist.
Im aktuellen Fall am Zuckerhütl in den Stubaier Alpen gilt die Unschuldsvermutung. Sollte sich aber herausstellen, dass der Bergsteiger, der die anderen durch seinen Sturz verletzt hat, bewusst den Unfallort in über 3.000 Metern Höhe verlassen hat, könnte ihm ein Verfahren wegen Unfallflucht und unterlassener Hilfeleistung drohen. Denn das ist nicht nur im Tal strafbar, sondern auch am Berg.
Dieser Artikel ist erstmals am 12.04.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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