Während CDU, CSU und AfD bereits das Ende der Ampel-Koalition einläuten und wahlweise von Neuwahlen oder Staatsbankrott sprechen, ist man bei SPD, FDP und Grünen zuversichtlich, gemeinsam ins dritte Jahr zu gehen. Wie fällt die Bilanz der sogenannten Fortschrittskoalition im zweiten Jahr aus? Wie die der einzelnen Minister und Ministerinnen?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
Im stetigen Sinkflug auf der Beliebtheitsskala – nur noch 20 Prozent der Deutschen finden, er mache einen guten Job. Hatte seinen Moment mit der Augenklappe im Bundestag nach einem Jogging-Unfall. Sah schlimm aus, er selbst nahm die Angelegenheit aber mit dem Scholz-typischen Humor. Hatte mit der Ampel alle Hände voll zu tun, vor allem nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Haushalt, musste aber bislang in diesem Jahr noch kein öffentliches Machtwort sprechen. Fand deutliche Worte nach dem Angriff der Terror-Organisation Hamas auf Israel am 7. Oktober: "Deutschland steht fest an der Seite Israels." Erwies sich als unerwartet geschickter Verhandler in Brüssel bei der EU, als er den ungarischen Ukraine-Blockierer Viktor Orban in eine Kaffeepause schicken konnte. In Orbans Abwesenheit stimmten die verbliebenen Staats- und Regierungschefs für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine.
Wirtschafts-Klimaminister Robert Habeck (B90/Die Grünen)
Mal runter, mal rauf, derzeit wohl wieder runter. War fast schon abgeschrieben nach dem diesjährigen Heizungsgesetz-Debakel, kam aber wieder zurück. Erwies sich als Polit-Philosoph, der versucht, den Planeten zu retten und das in Social-Media-Videos zu erklären. Hatte hier einen vielbeachteten Auftritt, als er gegen Judenhass und Antisemitismus in Deutschland klar Stellung bezog. Kämpft wie alle Grünen mit dem Label "die wollen allen alles verbieten". Hat beim Haushalt für das kommende Jahr Federn lassen müssen und all diejenigen überrascht, die meinen, politische Entscheidungen dauern zu lang: Den Umweltbonus für E-Autos hat er quasi über Nacht einkassiert.
Finanzminister Christian Lindner (FDP)
Kommt manchmal durcheinander – ist er nun lieber FDP-Chef oder lieber Bundesfinanzminister? Beides zusammen scheint sich manchmal zu widersprechen. Hat das massive Problem, dass er einen Haushalt aufgestellt hat, der nicht verfassungsgemäß ist. Und, dass er beim zweiten Anlauf weiter an der Schuldenbremse festhalten will. Das bekannteste Pokerface der Republik. Lässt sich partout nicht anmerken, wie ihn das Haushaltschaos nervt: "Wir sind in eine Regierung eingetreten, da geht man nicht einfach wieder." Einige seiner Parteifreunde sehen das anders und haben eine Mitgliederbefragung gestartet. Motto: Besser nicht regieren als so regieren.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD)
Die unangefochtene Nummer 1 auf der Liste der beliebtesten deutschen Politiker und Politikerinnen. Kommt auch bei der Truppe gut an – obwohl er es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Streitkräfte zu reformieren, die Bundeswehr "kriegstüchtig" zu machen. Das und sein Vorstoß zu einer Art "Wehrpflicht light" wiederum hat bei einigen seiner Parteifreunde für Stirnrunzeln und Kopfschütteln gesorgt. Pistorius ficht das nicht an. Hat immerhin ein 100-Milliarden-Euro schweres Sondervermögen im Rücken. Sein Problem: dass er das Geld gar nicht so schnell ausgeben kann, wie er möchte.
Außenministerin Annalena Baerbock (B90/Die Grünen)
Sie reist und reist und reist. Und sei es in der Nacht nach Ruanda und der Folgenacht wieder zurück, um ein Logistikzentrum von Biontech zu eröffnen und an den Völkermord der Hutu an den Tutsi zu erinnern. Versucht sich – auf den Spuren Joschka Fischers – nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel in der Rolle der Vermittlerin hinter den Kulissen. Da hilft, dass sie sich mit US-Außenminister Blinken blendend versteht. Von Konkurrenz zwischen Kanzler und Außenministerin ist nach anfänglichen Hakeleien kaum mehr etwas zu spüren, vielleicht auch, weil sie ihre Rolle ebenso geräuschlos wie effizient ausfüllt.
Innenministerin Nancy Faeser (SPD)
Wollte das Jahr eigentlich als Ministerpräsidentin von Hessen beenden. Erlitt bei der Landtagswahl allerdings eine verheerende Niederlage. Schaffte es immerhin, dass die Hessen-SPD von der Hessen-CDU als Junior-Koalitionspartnerin gewählt wurde. Faeser bleibt nun weiter die erste Frau an der Spitze des Innenministeriums in Berlin und wandelt bei den schwierigen Migrationsfragen mit dem Kredo "legale Zuwanderung ja, irreguläre Zuwanderung nein" auf einem schmalen Grat. Wird aus der eigenen Partei als deutlich zu rechts eingestuft, hat aber das Vertrauen des Kanzlers.
Hatte wenigstens als zuständige Sportministerin etwas zu feiern: die Basketball-Herren und die U17-Fußball-Nationalmannschaft wurden Weltmeister.
Justizminister Marco Buschmann (FDP)
Der unterschätzteste Liberale in der Bundesregierung. Ist an vielen Gesetzen beteiligt, weiß nur kaum einer. Wenn er bremst, wie bei der Cannabis-Freigabe oder der Mietrechtsnovelle, dann eher dezent im Hintergrund. Beim Selbstbestimmungsgesetz, das trans-, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen erleichtern soll, ihren Geschlechtseintrag zu ändern, hängt er allerdings genauso hinterher wie beim Kampf gegen Femizide. Großen Eifer legt Buschmann an den Tag, wenn es um die Digitalisierung der Justiz geht – dabei heißt der Digitalminister eigentlich Volker Wissing (FDP).
Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)
Als Bundesverkehrsminister war er auch im vergangenen Jahr damit beschäftigt, den Stau seiner Vorgänger aufzulösen. Für Bahnstreiks und Bahn-Boni-Affäre kann er nichts, gilt als einer der glühendsten Ampel-Befürworter. Sein größter Erfolg in diesem Jahr: die Einführung des bundesweit gültigen 49-Euro-Tickets. Ist eigentlich auch für Digitales zuständig. Vom Digitalminister Wissing hört man jedoch eher wenig, das übernehmen die Kollegen Buschmann (FDP) und Lauterbach (SPD).
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)
Der Verdacht, dass Karl Lauterbach arbeitslos werden könnte, nachdem die Corona-Pandemie abgeflaut war, löste sich schnell in Luft auf. Lauterbach verwendete vielmehr die übrige Energie darauf, ein wahres Feuerwerk an Gesetzentwürfen zu zünden. Wagte sich an die Mammutaufgabe Krankenhausreform heran. Jüngstes Projekt: die elektronische Patientenakte. Ob er mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen weiterkommt als alle Minister und Ministerinnen vor ihm, wird sich herausstellen. Am Engagement liegt es jedenfalls nicht.
Agrarminister Cem Özdemir (B90/Die Grünen)
Wähnte sich auf einem guten Weg, sich bei den Landwirten als "guter" Grüner zu etablieren. Kämpfte nicht nur für die Bio-, sondern auch für die konventionelle Landwirtschaft, Stichwort: "Tierwohllabel". Dann kam die Einigung zum Bundeshaushalt und die Abschaffung der klimaschädlichen Agrar-Diesel-Subventionen. Seitdem ist er damit beschäftigt, den Bauern und Bäuerinnen zu versichern, er stehe an ihrer Seite und verstehe ihre Wut. Seine Ambitionen, irgendwann in nächster Zeit einmal Winfried Kretschmann als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zu beerben, kann er sehr wahrscheinlich dennoch begraben.
Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD)
Hat – anders als ihr Vorgänger von der CSU – immer noch keinerlei gesteigerte Reisetätigkeit und auch kaum Profil entwickelt. Wirkt eher im Hintergrund und muss aufpassen, dass ihr Ministerium nicht weiter an Bedeutung verliert. Geriet in einen Social-Media-Storm, weil Entwicklungshilfegelder angeblich für Radwege in Peru eingesetzt wurden. Schmiedete ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit, als Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine und die daraus resultierende Nahrungsmittel-Krise.
Umweltministerin Steffi Lemke (B90/Die Grünen)
Hat auf ihre leise, selbstironische Art einen der größten Erfolge Deutschlands weltweit erzielt – lief nur wie vieles aus ihrem Ministerium unter dem Radar der Öffentlichkeit: Sie vertrat die Bundesrepublik auf der Artenschutzkonferenz in Montreal, auf der ein globales Artenschutzabkommen beschlossen wurde. Kümmert sich im Inland ehrenwerterweise um die Vernässung der Moore und diverse weitere Klimaanpassungsmaßnahmen. Mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz hat sie dafür erstmals mehrere Milliarden Euro zur Verfügung.
Minister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil (SPD)
Der Posterboy der SPD. So beliebt und erfolgreich mit den sozialdemokratischen Herzensthemen wie etwa dem Bürgergeld oder dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, dass er sogar zu den notorisch Regierungs-kritischen Jusos geschickt werden kann und dort gefeiert wird. Heil ist der Arbeiter im Ampel-Weinberg und ihr geschicktestes Mitglied. Hält sich aus den Streitereien zwischen den Ressorts bei Gesetzen selbst dann heraus, wenn sie sein Ministerium betreffen und gilt als grundsolide (siehe Kindergrundsicherung). Ein Schlachtross, das schon viele Schlachten geschlagen – und gewonnen hat.
Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP)
Als Ministerin machte sie im vergangenen Jahr genau einmal Schlagzeilen. Das aber dann weltweit. Als sie nämlich als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit 25 Jahren nach Taiwan reiste. China, das Taiwan als eigenen Landesteil betrachtet, sprach sogleich von einem "ungeheuerlichen Akt". Stark-Watzinger hielt dem entgegen, es sei ihr um den fachlichen Austausch mit Taiwan im Bereich Forschung und Innovation gegangen. Immerhin steht sie mit ihrem Taiwan-Besuch in einer liberalen Tradition. Der letzte Bundesminister, der Taiwan besucht hatte, war der Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) im Jahr 1997.
Familienministerin Lisa Paus (B90/Die Grünen)
Lisa Paus‘ Name ist untrennbar mit dem Projekt der Kindergrundsicherung verbunden. Von dem aber selbst die Ministerin nicht so genau weiß, wie viel die Bündelung verschiedener Leistungen kosten soll. Sie forderte zwölf Milliarden Euro, der Bundesfinanzminister sah nur zwei. Im Sommer sorgte sie für heftige Schweißausbrüche vor allem bei ihrem Parteifreund Habeck (B90/Die Grünen), als sie Lindners Wachstumschancengesetz blockierte, um mehr Geld für die Kindergrundsicherung herauszuschlagen. Ihrem Verhältnis zu Christian Lindner (FDP) hat das Tauziehen um die fälligen Milliarden ebenfalls nicht gutgetan. Paus leitet als Finanzexpertin ein "Gesellschaftsministerium", so nennt sie es jedenfalls. Die nächsten Projekte: das seit vielen Jahren geplante Demokratiefördergesetz und die Abschaffung des §218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt.
Bauministerin Klara Geywitz (SPD)
Das Gesicht der Krise auf dem Wohnungsbau. Hat eigentlich ein wichtiges Ministerium und die Aufgabe, jährlich vierhunderttausend neue Wohnungen aufs Gleis zu setzen. Wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Musste zuletzt sogar auf dem SPD-Parteitag erleben, dass sie nicht jeder auf dem Zettel hat: Bei der Begrüßung der SPD-Minister und -Ministerinnen wurde sie glatt übersehen: "Jetzt hab ich Clara vergessen", hieß es vom Podium. Die Ministerin nahm es nicht übel. Geywitz hat (immer noch) das Ohr des Kanzlers, zu dessen engen Vertrauten sie zählt.
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