Im Prozess gegen die IS-Rückkehrerin und mutmaßliche Terroristin Jennifer W. hat die Bundesanwaltschaft eine lebenslange Haftstrafe gefordert. W. habe durch Untätigkeit den Tod eines fünfjährigen Mädchens zu verantworten, sagte Oberstaatsanwältin Claudia Gorf vor dem Oberlandesgericht München. Sie sei unter anderem der Versklavung mit Todesfolge, der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Kriegsverbrechen schuldig.
Für Prozessbeobachter kommt diese Forderung wenig überraschend. An Nachfragen, an Gestik und Mimik wurde über die Monate hinweg deutlich, dass die Anklage Jennifer W. besonders kritisch sieht. Auch angesichts der schweren Vorwürfe, die selbst in der salafistisch-dschihadistischen Szene kontrovers diskutiert werden.
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Bundesanwaltschaft: Schläge und Demütigungen ausgesetzt
W. steht seit April 2019 in München vor Gericht, weil sie in Bayern auf der Durchreise verhaftet wurde. Die junge Frau aus Lohne in Niedersachsen war nach eigener Aussage im Jahr 2014 in den Irak gereist, um dort aus ideologischer Überzeugung einen Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zu heiraten. Der Anklage zufolge kaufte das Paar eine Frau, die der vom IS systematisch verfolgten Religionsgemeinschaft der Jesiden angehörte, und deren Tochter als Sklavin. Mutter und Kind waren immer wieder Schlägen, Demütigungen und Bedrohungen ausgesetzt, wie die Mutter während einer elf Tage langen Aussage im Prozess angegeben hatte.
Jennifer W. habe nichts unternommen, um Mädchen zu retten
Im Sommer 2015 soll W. im irakischen Falludscha zugesehen haben, wie das kleine Mädchen ungeschützt in praller Sonne starb, nachdem ihr Ehemann es angebunden hatte. Laut Anklage war die Fünfjährige krank und hatte ins Bett gemacht. Draußen bei 45 Grad an ein Fenster gefesselt zu werden, sei die Strafe dafür gewesen. W. habe nichts unternommen, obwohl sie im Gegensatz zu den Sklaven keine Misshandlungen durch ihren Mann habe fürchten müssen.
Jennifer W. hatte vor Gericht eine etwas andere Version. Sie hatte in dem seit rund zweieinhalb Jahren laufenden Verfahren lange geschwiegen - bis sie sich im März dieses Jahres zu den Vorwürfen äußerte. Von ihrer Anwältin Seda Basay-Yildiz ließ sie eine Einlassung verlesen Jennifer W. gab an, dass sie dem Mädchen habe helfen wollen. Wegen ihres Mannes habe sie sich jedoch nicht getraut.
Und dann brach sie in Tränen aus, als sie selbst die Nachfragen des Senats beantwortete, als dieser wissen wollte, ob ein Einschreiten von Jennifer W. trotz des Ehemanns möglich gewesen wäre. "Zu diesem Zeitpunkt niemals", antwortete die Angeklagte. "Heute wäre es mir egal, wenn er mich schlagen oder töten würde. Aber damals hatte ich nur ihn."
Oberstaatsanwältin Gorf findet jedoch, W.s Angaben seien nicht glaubwürdig und wiesen viele "logische Brüche" auf.
"Tiefgreifende Verletzung der Seele"
Jennifer W. wird eben besonders skeptisch beäugt. Für die jesidische Community wäre eine lebenslange Verurteilung Wiedergutmachung an den Verbrechen, die der IS an den Jesiden begangen hat. Die Jesidin und Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad nannte den Prozess im April 2019 einen großen Moment und ein wichtiges Verfahren für alle jesidischen Überlebenden. "Jeder Überlebende, mit dem ich gesprochen habe, wartet auf ein und dieselbe Sache: Dass die Täter für ihre Taten gegen die Jesiden, insbesondere gegen Frauen und Kinder, verfolgt und vor Gericht gestellt werden."
Auch die Bundesanwaltschaft ist davon überzeugt: Die Mutter des Mädchens leide bis heute nicht nur unter dem Verlust ihrer Tochter, sondern auch unter Schmerzen und habe eine "tiefgreifende Verletzung der Seele" davongetragen. "An der Verantwortlichkeit für den Tod der Tochter kann kein Zweifel verbleiben", sagte Oberstaatsanwältin Gorf. Die Anklage sieht es zudem als erwiesen an, dass die Angeklagte für die religiöse Sittenpolizei des IS tätig war und bewaffnet in Parks patrouilliert hatte. Durch ihr Handeln habe sie den Vernichtungsfeldzug des IS gegen die Jesiden gefördert.
Anträge der Verteidigung abgelehnt
Die Verteidiger der Angeklagten hatten zuvor gefordert, weitere Zeugen zu hören und Beweise zu erheben. Anwältin Seda Basay-Yildiz warf dem Gericht vor, es habe die Aussage von W. ignoriert, laut der ein Angehöriger der Familie des Ehemanns das leidende, aber noch lebende Kind in ein Krankenhaus gebracht habe. Diese Version werde durch die Angaben der Mutter des Mädchens gestützt. Zudem argumentierte sie, dass der Tod der Fünfjährigen einem Bericht des Krankenhauses von Falludscha zufolge auch durch eine Infektion mit Typhus oder Salmonellen zu erklären sei. Das Gericht lehnte den Antrag ab.
Mit dpa-Material
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