Wegen des Nahost-Kriegs kommt es in Russlands muslimisch geprägtem Nordkaukasus verstärkt zu antijüdischen Übergriffen. In Machatschkala in der Teilrepublik Dagestan drang eine Menschenmenge am Sonntagabend in den Flughafen ein, weil dort eine Maschine aus Tel Aviv gelandet war, in der offenbar Flüchtlinge aus Israel saßen.
Der Flugplatz wurde vorübergehend geschlossen, ankommende Flugzeuge auf andere Flughäfen umgeleitet, wie die staatliche Flugaufsicht Rosawiazija mitteilte. Sicherheitskräfte seien entsandt worden, hieß es. Nach offiziellen Angaben sind mindestens 20 Menschen verletzt worden. Zwei von ihnen seien in kritischem Zustand, teilten die örtlichen Gesundheitsbehörden mit.
Die Passagiere des Flugzeugs seien "an einem sicheren Ort", sagten Sicherheitskräfte der Nachrichtenagentur Reuters. Nach Angaben des russischen Innenministeriums wurden 60 Menschen festgenommen. Die Beamten hätten zudem vollständig die Kontrolle über den Airport in der Stadt Machatschkala übernommen.
Mob sucht nach israelischen Passagieren
Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, wie der antisemitische Mob den Flughafen stürmt, um nach den Passagieren aus Israel zu suchen. Zu sehen ist, wie die Männer Zäune durchbrechen und Türen im Terminal eintreten.
Die Menschenmenge gelangte auch auf das Rollfeld. Passagiere des Flugzeugs aus Tel Aviv wurden Berichten zufolge angewiesen, sofort wieder in die Maschine einzusteigen. Die Maschine wurde von dem Mob zeitweise belagert.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland postete eines der Videos aus Dagestan auf der Plattform X und nannte die Bilder schockierend. Israel forderte die russischen Behörden am Sonntag auf, Juden und israelische Staatsbürger in ihrem Zuständigkeitsbereich zu schützen.
Männer wollten Reisepässe kontrollieren
Die Regionalregierung von Dagestan erklärte am Abend auf Telegram, dass die Lage inzwischen unter Kontrolle sei. Laut russischen Agenturen war die Nationalgarde im Einsatz. Die Randalierer wurden demnach vom Rollfeld und aus dem Flughafengebäude gedrängt.
Ob sich die Maschine am Abend noch auf dem Rollfeld befand und was mit den Passagieren war, blieb zunächst unklar. Bevor sie in den Flughafen eindrangen, hatten einige der Männer noch versucht, die Reisepässe von Passagieren auf der Suche nach israelischen Staatsbürgern zu kontrollieren. Auf den Videos war zu sehen, wie einer ein Schild mit der Aufschrift "Kindermörder haben keinen Platz in Dagestan" hochhielt. Andere riefen demnach "Allahu Akbar" (Gott ist groß).
Hotel mit Flüchtlingen aus Israel umzingelt
Ein weiterer Vorfall hatte sich am Samstag in Dagestan ereignet: Eine Menge aufgebrachter Menschen umringte ein Hotel in der Stadt Chassawjurt, weil es das Gerücht gab, dort seien Flüchtlinge aus Israel untergebracht. Nach örtlichen Berichten drangen mehrere Dutzend Männer in das Hotel ein, um angeblich die Pässe der Hotelgäste zu kontrollieren. Die Polizei riegelte das Hotel ab.
Verschärft wird die Lage dadurch, dass die Evakuierungsflüge für russische Staatsbürger aus Tel Aviv ausgerechnet im Nordkaukasus landen, nämlich auf den Flughäfen Machatschkala, Mineralnyje Wody und Sotschi. Im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern halten die russischen Muslime zu ihren palästinensischen Glaubensbrüdern.
In Naltschik wurden am Sonntag Reifen neben einem jüdischen Kulturzentrum im Bau angezündet, wie die Nachrichtenagentur Ria meldete. Das Gebäude wurde nach Angaben der Sicherheitsbehörden der Teilrepublik Kabardino-Balkarie mit extremistischen Losungen beschmiert. Fotos zufolge stand dort "Tod den Juden". In der Teilrepublik Karatschajewo-Tscherkessien riefen Demonstranten dazu auf, die örtliche jüdische Bevölkerung auszusiedeln.
Republikchef von Dagestan ruft zur Ruhe auf
Der Republikchef von Dagestan, Sergej Melikow, rief die Bevölkerung auf, sich nicht von Extremisten aufstacheln zu lassen, die die Lage destabilisieren wollten. "Wegen der Fakes, die von unseren Feinden verbreitet werden, waren einige noch ganz junge Leute drauf und dran, die Gesetze zu verletzen", schrieb er auf Telegram. Auch die islamische Geistlichkeit der Region stellte klar: "Der Antisemitismus hat keinen Platz im multiethnischen Nordkaukasus."
Bei einem Besuch auf dem Airport sprach Melikow von einem gezielten Versuch, die Lage in Dagestan destabilisieren zu wollen. Er warf Kräften in der Ukraine vor, die Bürger über Telegram-Kanäle zu religiösem Hass und Gewalt aufgerufen zu haben. In der Region im Nordkaukasus kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Protesten auch etwa gegen die Zwangsrekrutierung für den Krieg gegen die Ukraine. Melikow warf den "Feinden Russlands" vor, Spannungen im Land schüren zu wollen.
Kreml: Proteste vom Ausland provoziert
Die dagestanische Führung hatte sich angesichts der Lage in Nahost solidarisch mit den Palästinensern erklärt. Präsident Wladimir Putin hattte sich angesichtgs der Gewalt in Nahost vergangene Woche mit den Oberhäuptern der in Russland vertretenen Religionen getroffen. Dabei beschwor er ein friedliches Zusammenleben der Völker und Religionen.
Nun ließ die russische Regierung in Moskau verlauten, es sei "allgemein bekannt und offensichtlich", dass die antijüdischen Proteste in Dagestan "größtenteils das Ergebnis äußerer Einmischung" seien. Angesichts der Fernsehbilder von dem "Horror" im Gazastreifen sei es "sehr leicht, die Situation zu missbrauchen, dies zu provozieren, die Leute aufzubringen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Das zentrale russische Ermittlungskomitee teilte in Moskau mit, die Menschen seien über Telegram-Kanäle zu gewaltsamen Protesten aufgerufen worden und hätten dann "Pogrome" begangen.
Kremlchef Wladimir Putin will als Reaktion auf die Übergriffe am Montagabend eine Sitzung abhalten, bei der es um die Sicherheitslage und Destabilisierungsversuche des Westens gehen soll. Thema der Sitzung, an der die Regierung sowie die Vertreter des russischen Sicherheitsapparates teilnehmen sollen, seien "die Versuche des Westens, die Lage im Nahen Osten dazu zu nutzen, eine Spaltung der russischen Gesellschaft herbeizuführen".
Russischer Medienbericht sieht Schuld bei in der Ukraine lebendem Russen
Die russische Nachrichtenseite Mediasona berichtete, dass in lokalen Telegram-Gruppen vor dem Flughafen-Sturm erklärt worden sei, dass «Flüchtlinge aus Israel» nach Dagestan kommen würden. Nach einigen derartigen Beiträgen versammelte sich bereits am Samstag vor einem Hotel in der Stadt Chassawjurt eine Menschenmenge vor einem Hotel, um israelische Staatsangehörige ausfindig zu machen, die sich nach ihrer Auffassung dort aufhielten. Die Menschen zogen wieder ab, als sie keine Israelis dort vorfanden, wie es hieß.
Ein derartiger Telegram-Kanal wurde von dem früheren russischen Abgeordneten Ilja Ponomarjow ins Leben gerufen, der aktuell in der Ukraine lebt und behauptet, an einer Guerilla-Bewegung innerhalb Russlands beteiligt zu sein, wie Mediasona berichtete. Die Nachrichtenagentur AP konnte den Bericht nicht unabhängig bestätigen. Ponomarjow hat erklärt, er habe keine Verbindung mehr zu dem Telegram-Kanal.
Die Ukraine wies die russischen Vorwürfe zurück. "Die Vorgänge in Machatschkala spiegeln den tief verwurzelten Antisemitismus der russischen Eliten und Gesellschaft wider", schrieb der ukrainische Außenamtssprecher, Oleh Nikolenko, bei Facebook. Moskau versuche mit seinen Vorwürfen gegen Kiew nur, die Verantwortung abzuschieben. Der Aufruhr sei vielmehr Folge der "russischen Staatspropaganda, die jahrzehntelang unter den Russen das Gefühl von Hass gegen andere Völker kultivierte".
Aufruf zum Schutz von Juden
Israel rief nach dem Vorfall in Dagestan Russland zum Schutz seiner Staatsbürger und aller Menschen jüdischen Glaubens auf. Washington verurteilte die "antisemitischen Proteste" in Dagestan.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland wies auf israelische Medienberichte hin, wonach in der Maschine aus Tel Aviv "paradoxerweise" vor allem russische Staatsbürger gewesen seien, die von medizinischen Behandlungen zurückgekehrt seien. "Der Judenhass der Islamisten kann durch nichts besser demaskiert werden, als durch die Realität", erklärte der Zentralrat.
Nach den Worten des Zentralratspräsidenten Josef Schuster zeigt der Vorfall aber gleichzeitig, "dass wir es mit einer Ideologie zu tun haben, die keine Grenzen kennt". Es gehe "den Islamisten nicht um Israel, sondern es geht ihnen um Juden". Auch in Dagestan gebe es "ein Netzwerk von fanatischen Islamisten, die die Menschen aufgehetzt haben", führte Schuster weiter aus. Er forderte, "alles dafür tun, dass diese Radikale in Deutschland keine Möglichkeit haben, ihren Hass zu verbreiten".
Internationale Reaktionen
Die Konferenz Europäischer Rabbiner (CER) sprach über die Vorgänge in Dagestan von einem Pogrom. Es sei zu hoffen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin "die örtlichen Behörden unmissverständlich anweist, keine Pogrome gegen Juden zuzulassen", erklärte der CER-Präsident, Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, am Montag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
"Putin sollte sich bewusst sein, dass auch er ein Problem mit islamischem Extremismus und Terrorismus im eigenen Land hat und sich die Unterstützung von Terrororganisationen wie der Hamas auch für ihn und Russland als Bumerang erweisen könnte", so der frühere Moskauer Oberrabbiner.
Er betonte: "So sieht es aus, das Ergebnis der russischen Unterstützung der Terrororganisation Hamas und des Schweigens des Kremls, statt die Gräueltaten der Hamas klar zu verurteilen." All das passiere in einer Situation, "in der bewusst von der Hamas, dem Iran und anderen islamistischen extremistischen Bewegungen ein falsches Nahost-Narrativ verbreitet wird"; es missbrauche schamlos Muslime und andere Menschen und halte sie als geistige Geiseln. Goldschmidt lebt im Exil, weil er den russischen Krieg gegen die Ukraine nicht unterstützt.
Mit Informationen von dpa und AFP
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!