Ein Gymnasium in Berlin-Neukölln: Ein Schüler zeigt eine Palästina-Flagge, der Lehrer greift ein, sie geraten aneinander - es folgen eine Ohrfeige und Tritte. Das Video löst eine Debatte aus und wirft die Frage auf: Nimmt der Antisemitismus angesichts des Kriegs in Israel hierzulande an Schulen zu?
Bayerisches Kultusministerium: Antisemitische Vorfälle nehmen nicht zu
Vom bayerischen Kultusministerium heißt es auf BR24-Anfrage: "Bisherige Abfragen haben keine konkreten Hinweise darauf gegeben, dass antisemitische Vorfälle an Bayerns Schulen zugenommen hätten." Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll, der selbst Leiter eines Gymnasiums im schwäbischen Neusäß ist, meint: Was in Neukölln passiert ist, sei die Ausnahme, nicht die Regel, "und das ist auch gut so. Das zeigt uns, dass Schule insgesamt funktioniert und einen sicheren Ort darstellt".
Die Schule - ein Ort, vor dem Konflikte und Kriege aber keinen Halt machen. An der Mittelschule im oberbayerischen Karlsfeld thematisiert Lehrer Markus Hammerl im Fach "Politik und Gesellschaft" den Krieg. Denn er merkt, "dass da öfter Vorurteile oder Stereotype nachgeplappert werden, die die Kinder von Zuhause mitkriegen". Auch soziale Medien stellen hierbei ein Problem dar. Bei dem 15-jährigen Giovanni in der zehnten Klasse kommt der Unterricht an: "Man muss ja wissen, was in der Welt geschieht, man muss sich da interessieren, auch wenn es dir nicht gefällt."
Klassenzimmer: Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen
Das findet auch die Integrationsbeauftragte des Bundes, Reem Alabali-Radovan (SPD). Zumal Klassenzimmer Orte sind, an denen verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Genau darin liegt die Herausforderung für Schulen und Lehrer, diese Kulturen zu vereinen, "mit dieser historischen Verantwortung, die Deutschland hat". Reem-Alabali ist der Meinung: "Der Nahost-Konflikt und auch die Geschichte dahinter muss einen viel größeren Raum kriegen in den deutschen Schulplänen mit dem Blick auf diese verschiedenen Perspektiven, die jetzt in den Klassenzimmern einfach da sind."
Lehrer wenden sich an Kompetenzzentrum Antisemitismus: Wie umgehen?
Dabei hat Antisemitismus verschiedene Facetten, wie auch Marina Chernivsky vom "Kompetenzzentrum Antisemitismus" in Berlin weiß. Derzeit gebe es viele Anfragen von Lehrkräften - 130 allein vergangene Woche an die Bildungsstätte Anne Frank: "Was können wir pädagogisch tun, wie sollen wir die Gespräche in unseren Klassen führen?", so lauteten die Fragen. Für Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) ist das "ein klarer Spiegel dafür, dass es offenbar keine vorherige grundlegende Information und Ausbildung in dem Bereich gegeben hat".
Kultusministerium: Leitfäden, Workshops und Themenportale zu Antisemitismus
Lehrerverbandspräsident Düll meint: Lehrer seien generell dafür ausgebildet, mit Konflikten umzugehen. Konflikte wie der nach der jüngsten Eskalation im Nahen Osten, habe man bisher aber so noch nicht erlebt. Das bayerische Kultusministerium betont, es habe sich nach dem Angriff der Hamas auf Israel mit einem Schreiben an die Schulen gewandt und dazu aufgerufen, die aktuellen Ereignisse in den Klassen anzusprechen.
Mit Leitfäden, Workshops und diversen Themenportalen unterstütze man Lehrkräfte. Zudem wird derzeit an einer Ausweitung des Projekts "ReThink" gearbeitet: Die Workshops richten sich an Schüler ab der neunten Jahrgangsstufe, die meist einen muslimisch-arabischen Hintergrund haben, um über antisemitische Einstellungen zu reflektieren. Man arbeite daran, um das Angebot künftig auch jüngeren Schülern anzubieten.
Lehrerpräsident: "Schule kann Versäumnisse von Politik und Gesellschaft nicht beheben"
Generell sind sich Lehrerpräsident und Kultusministerium aber einig, dass die deutsche Geschichte mit dem NS-Regime und der Ermordung der europäischen Juden im Fach Geschichte - auch mit einem Besuch von KZ-Gedenkstätten - umfangreich thematisiert werde, das sei auch in Lehrplänen festgeschrieben.
Düll macht aber zugleich deutlich: Schule könne Versäumnisse von Politik und Gesellschaft nicht beheben: "Deutschland als faktisches Einwanderungsland, hat hier noch eine große Aufgabe vor sich, Menschen nicht nur ins Land zu lassen, sondern sie auch auf unsere Werte einzuschwören." Wenn Polizisten oder Lehrer angegriffen würden, müsse eine "Null-Toleranzpolitik" herrschen.
Regionalbeauftragte für Demokratie und Toleranz an Bayerns Schulen
In Bayern müssen die Schulleitungen beispielsweise Anzeige erstatten, sobald konkrete Tatsachen auf strafrechtliche Vorkommnisse zu Antisemitismus vorliegen. Was schulische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsschwelle anbelangt, so fallen diese in den Zuständigkeitsbereich der bayerischen Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz. Dabei handelt es sich um 26 speziell ausgebildete Schulpsychologen und Beratungslehrkräfte, die sowohl beratend als auch interventionistisch tätig sind: "Dieses niedrigschwellige Modell, das deutschlandweit einzigartig ist und in dessen Fokus die pädagogische Analyse des jugendlichen Fehlverhaltens steht, erlaubt es, zielgenaue, altersgerechte sowie langfristig wirksame Präventionsarbeit zu leisten", heißt es hierzu vom Kultusministerium.
Seit dem terroristischen Hamas-Angriff auf Israel ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland gestiegen - das zeigen die aktuellen Zahlen des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).
Der jüngste Bericht zeigt: Zwischen dem 7. Oktober bis einschließlich 15. Oktober wurden insgesamt 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland gemeldet. Das entspricht einer Zunahme von rund 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
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