Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm vom Atomkraftwerk (AKW) Isar 2 bei Essenbach/Landshut.
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Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm vom Atomkraftwerk (AKW) Isar 2. Kann Atomkraft helfen, wenn Deutschland das Gas ausgeht?

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Atomkraft länger nutzen: Analyse von drei Szenarien

Atomkraft länger nutzen: Analyse von drei Szenarien

Atomkraft? Nein danke - so lautete lange die Mehrheitsposition der Deutschen. Angesichts der drohenden Energiekrise hat sich die Stimmung gedreht. Wie könnte eine längere Nutzung der Atomkraft aussehen? Wie wahrscheinlich sind verschiedene Szenarien?

Im Frühjahr schien die Sache noch klar: Nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hatten das Bundesumweltministerium und das Wirtschafts- und Klimaministerium eine mögliche Weiternutzung der Atomkraft geprüft. Es ging um die Frage, so Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), ob ein längerer Betrieb der Atomkraftwerke in der neuen außenpolitischen Situation helfen könne – für den Fall, dass die Energiezufuhr aus Russland nicht anders kompensiert werden könnte. "Dies ist zu verneinen", stellte Habeck nach der Prüfung fest. Einem geringen Nutzen stünden hohe Risiken gegenüber, so das Fazit der beiden von den Grünen geführten Ministerien.

AKW-Betreiber äußerten sich zunächst zurückhaltend

Auch die Betreiber der drei noch verbliebenen Atomreaktoren in Bayern (Isar 2), Baden-Württemberg (Neckarwestheim 2) und Niedersachsen (Emsland) äußerten sich zunächst zurückhaltend – die Kernkraftbetreiber sind für den Atomausstieg entschädigt worden und haben sich weitgehend aus dem Geschäft zurückgezogen.

Mit der Sorge vor einer Energiekrise im Winter ist die Frage nach längeren Laufzeiten aber in den vergangenen Wochen wieder auf die Tagesordnung gekommen. Zumal inzwischen nicht mehr nur ein Gasmangel droht, sondern im Winter auch die Stromversorgung an Grenzen stoßen könnte – wenn Menschen ihre Wohnungen anstelle von Gas mit Heizlüftern und anderen elektrischen Geräten heizen. Vor diesem Hintergrund könnte eine längere Laufzeit "Sinn machen", wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erst vor wenigen Tagen sagte. Wenn auch mit der Einschränkung, dass Atomkraftwerke nur für einen kleinen Teil der Stromproduktion relevant seien.

Eine Laufzeitverlängerung ist damit in den Bereich des Möglichen gerückt. Auch die öffentliche Stimmung deutet darauf hin: Laut dem jüngsten ARD-Deutschlandtrend sind mehr als 80 Prozent der Deutschen für eine längere Nutzung der drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke. Die einen befürworten nur eine Nutzung im kommenden Jahr, die anderen plädieren sogar für eine längerfristige Nutzung.

  • Zum Artikel: Energiekrise, Klima, Gasnotstand: Kann uns Atomkraft helfen?

Szenario eins: Ein "Streckbetrieb" bis in den nächsten Sommer

Bei diesem Szenario würde es sich um eine kurze Laufzeitverlängerung handeln. Die drei noch aktiven Kraftwerke verbrauchen in diesem Szenario lediglich die vorhandenen Brennstäbe. Um den Winter besser zu überstehen, wenn Sonne und Wind nicht so viel Strom liefern, könnte man den Betrieb jetzt im Sommer drosseln und die Stromgewinnung damit "strecken". Dafür müsste das Atomgesetz geändert werden, außerdem müssten Sicherheits- und Haftungsfragen geklärt werden. Die Betreiber von Isar 2 (Preußen Elektra) und Neckarwestheim 2 (EnBW) haben aber grundsätzlich erklärt, dass sie für einen Weiterbetrieb bereitstünden. In München haben sich sogar die Stadtratsfraktionen von SPD und Grünen hinter einen längeren Betrieb von Isar 2 gestellt.

Eine Entscheidung für einen Streckbetrieb müsste aber bald getroffen werden. Ein möglicher Anlass könnte das Ergebnis eines aktuell laufenden Stresstests für den Strombereich in Deutschland sein. Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Verantwortlichen der großen Stromnetze aufgefordert, die Risiken für die Stromversorgung unter besonders harten Bedingungen zu prüfen. Das Ergebnis soll noch im August vorliegen. Sollte der Test auf größere Risiken deuten, dürften die politischen Widerstände gegen einen Streckbetrieb, zumindest für Isar 2 und Neckarwestheim 2, nicht allzu groß sein.

Unsere Schätzung der Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario: 80 bis 90 Prozent.

Szenario zwei: Eine Laufzeitverlängerung um zwei bis drei Jahre

Sowohl die Unionsparteien als auch die FDP setzen sich für eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke über einen reinen Streckbetrieb hinaus ein. So warb der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder bei seinem Besuch im Kernkraftwerk Isar 2 in der vergangenen Woche für eine Verlängerung bis mindestens Mitte 2024. Dafür müsste aber nicht nur das Atomgesetz geändert werden wie in Szenario 1. Vielmehr müssten die Reaktoren über die laufenden Sicherheitskontrollen hinaus umfassend gecheckt werden. So verlangt das Atomgesetz alle zehn Jahre eine so genannte "Periodische Sicherheitsüberprüfung" – eigentlich wäre diese 2019 fällig gewesen, wegen des anstehenden Atomausstiegs wurde aber darauf verzichtet. Wenn diese großen Sicherheits-Checks nun doch anfallen, müssten dafür zeitweilige Ausfälle der Kraftwerke eingeplant werden. Außerdem müssten schnellstens neue Brennstäbe für die Reaktoren besorgt werden.

Sollte sich die Politik für eine mittelfristige Laufzeitverlängerung entscheiden, könnten auch die bereits Ende 2021 stillgelegten Reaktoren Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C wieder ins Spiel kommen. Nach Einschätzung von Joachim Bühler, dem Geschäftsführer des TÜV-Verbands, wäre es technisch durchaus möglich, diese Reaktoren wieder anzufahren. Die juristischen und vor allem politischen Hürden sind aber deutlich höher als bei einem reinen Streckbetrieb bis ins Jahr 2023 hinein.

Unsere Schätzung der Wahrscheinlichkeit für eine mittelfristige Nutzung der Kernkraft: 30 bis 40 Prozent.

Szenario drei: Der Ausstieg vom Ausstieg

Mit Ausnahme der AfD ist keine der im Bundestag vertretenen Parteien für eine dauerhafte Nutzung der Kernenergie. In manchen Diskussionen klingt aber durchaus die Frage an, woher der Strom in den kommenden Jahren kommen soll, wenn die Wirtschaft im Rahmen der Energiewende mehr und mehr auf Strom umgestellt wird. So wies der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner erst kürzlich darauf hin, dass nicht nur in den nächsten Monaten, sondern auch in den kommenden Jahren verstärkt mit Strom geheizt werden dürfte: "also müssen wir alle Kapazitäten zur Energieerzeugung erhalten und ausbauen", so Lindner.

Auch wenn der FDP-Chef bereits klargestellt hat, dass er nicht für den Ausstieg aus dem Atom-Ausstieg plädiert – in anderen Ländern feiert die Atomenergie eine Renaissance. Manche EU-Staaten bauen neue Atomkraftwerke, andere wie Belgien haben den Atomausstieg zeitlich nach hinten verschoben. Auch die EU-Kommission in Brüssel hat die Mitgliedsstaaten aufgefordert, angesichts der aktuellen Notlage die Ausstiegsbeschlüsse zu überprüfen.

So dürfte, wenn andere Länder aus Solidarität mit Deutschland Gas sparen, von Deutschland im Gegenzug Solidarität in Sachen Strom erwartet werden. Derzeit ist beispielsweise Frankreich auf Stromimporte von jenseits des Rheins angewiesen, weil just die französischen Atomkraftwerke wegen notwendiger Sicherheitschecks und Wartungen nur begrenzt einsatzfähig sind. Das zeigt: Auch wenn neue Reaktoren in Deutschland derzeit nicht denkbar sind – die Debatte über längere Laufzeiten der Atomkraftwerke könnte über die aktuelle Gaskrise hinaus geführt werden.

Unsere Einschätzung der Wahrscheinlichkeit für den Ausstieg aus dem Ausstieg: maximal 10 Prozent.

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