Am Vormittag erklärte Sahra Wagenknecht offiziell ihren Austritt aus der Partei Die Linke. Mit ihrer geplanten Parteigründung verliert die Linken-Fraktion im Bundestag auf einen Schlag zehn Abgeordnete. Wie die bisherige Fraktionschefin Amira Mohamed Ali sagte, erklärten sie und Wagenknecht sowie acht weitere Abgeordnete am Morgen ihren Austritt aus der Partei.
Die Abgeordneten äußerten sich auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Wagenknecht in Berlin, bei der ein Verein zur Vorbereitung der Parteigründung vorgestellt wurde. "Wir haben uns zur Gründung einer neuen Partei entschieden, weil wir überzeugt sind, so, wie es derzeit läuft, darf es nicht weitergehen", sagte Wagenknecht in Berlin. "Denn sonst werden wir unser Land in zehn Jahren wahrscheinlich nicht wiedererkennen." Die Partei soll Anfang 2024 gegründet werden und zur Europawahl im Juni 2024 antreten.
Wagenknecht kritisiert Wirtschaftssanktionen
Interessant: Den Vorsitz wird Mohamed Ali innehaben, Wagenknecht ist vorerst nur Mitglied. Mohamed Ali kritisierte, dass es seitens des Linken-Parteivorstands "keine kritische Auseinandersetzung mit Wahlniederlagen" gegeben habe. Trotzdem würden sie und ihre Parteikollegen "ohne Groll" gehen - sie wollen auch in der Linksfraktion bleiben. Es gehe darum, eine "Lücke im Parteiensystem" zu schließen.
Wagenknecht erklärte, die Bundesrepublik habe derzeit "die wohl schlechteste Regierung der Geschichte". Viele wüssten nicht mehr, was sie wählen sollen - und würden aus Verzweiflung rechten Parteien ihre Stimme geben. Als zentralen Pfeiler nannte Wagenknecht die Wirtschaftspolitik. Sie kritisierte die bestehenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland und betonte, dass Deutschland eine Exportnation sei. Die neue "geopolitische Blockbildung" blockiere aber Absatzmärkte.
"Wirtschaftspolitik der Vernunft" statt "Öko-Aktivismus"
Wagenknecht kritisierte außerdem die Bildungsinfrastruktur in ärmeren Vierteln, diese sei "marode". Sie warnte vor einem drohenden Wohlstandsverlust, kritisierte den sogenannten "Öko-Aktivismus", von dem man wegkommen müsse. Stattdessen plädierte sie für die Entwicklung von "Zukunftstechnologien", davon gebe es in Deutschland aber immer weniger. Es gelte jetzt, gute Rahmenbedingungen für den Mittelstand zu schaffen und eine "neue Wirtschaftspolitik der Vernunft" zu verfolgen.
Verein positioniert sich gegen militärische Lösungen
Als weiteres zentrales politisches Ziel nannte die ehemalige Linken-Politikerin den sozialen Ausgleich: Aktuell werde "von den Fleißigen zu den oberen Zehntausend umverteilt". Sie thematisierte auch die Altersarmut - das Rentenniveau in Deutschland gehöre zu den schlechtesten in Europa.
Hinsichtlich Deutschlands Außenpolitik kritisierte Wagenknecht, dass Deutschland nicht mehr auf Entspannungspolitik und Diplomatie, sondern "auf die militärische Karte" setze. Das sei ein "großer Fehler". Aber weder für die Ukraine noch den Nahen Osten gebe es eine militärische Lösung. Ihr Verein hingegen setze sich konsequent für Frieden und Verhandlungslösungen ein.
Wagenknecht will "Meinungskorridor" wieder weiten
Wagenknecht kritisierte einen "Konformitätsdruck in den Debatten", ob es um Corona oder den Ukraine-Krieg gehe. Sie erklärte als Ziel, dass der Meinungskorridor "wieder breiter" werden müsse, und sprach von einer "dominanten Meinungsblase".
Abschließend bat Wagenknecht die Presse um eine "sachliche Auseinandersetzung" mit ihrem neu gegründeten Verein - im Interesse "eines vernünftigen Meinungsklimas" solle man "fair" miteinander umgehen. Schließlich halte die jüngere Zeit genügend Beispiele parat, dass "Kampagnen" den Adressaten "mehr gestärkt als geschwächt" hätten.
Auf eine Nachfrage zur Abgrenzung zur AfD erklärte Wagenknecht, man mache "keine gemeinsame Sache" mit der Rechtsaußen-Partei. Man wolle "eine seriöse Adresse" für Menschen sein, die "aus Wut" AfD wählten, ohne rechts zu sein. Ob sie selbst zur Europa-Wahl antrete, ließ die Politikerin offen.
Aufgabenverteilung im Verein "BSW"
Wagenknecht hatte bereits seit Monaten Erwägungen zur Gründung der Partei angestellt. Vor einigen Wochen hatten ihre Unterstützer den Verein "Bündnis Sahra Wagenknecht - Für Vernunft und Gerechtigkeit" registrieren lassen. Dieser soll die Parteigründung nun vorbereiten und Spenden einsammeln.
Vorsitzende ist die bisherige Fraktionsvorsitzende der Linken, Amira Mohamed Ali. Geschäftsführer ist der frühere Geschäftsführer der Linken in NRW, Lukas Schön, Schatzmeister der Millionär Ralph Suikat. Dieser erklärte, er sei selbst auf Sahra Wagenknecht zugegangen. Aus der Ampel kämen ihm zu wenig Impulse für die Menschen, die "am Ende" der Gesellschaft stünden. Auch er nannte das Stichwort "Vernunft", die mit der Vereinsgründung wieder in die Politik einziehen würde. Außerdem warb er um Spenden.
Bundestagsabgeordneter Leye: "Der Frust im Land ist groß"
Der Bundestagsabgeordnete Christian Leye erklärte zu seinem Parteiaustritt, dass er "politisch keine andere Wahl" gehabt habe, da die Linke ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt habe: "Der Frust im Land ist groß." Die Menschen hätten immer weniger Geld zur Verfügung, das Land werde "kaputtgespart". Er sprach von einer "Krise des Kapitalismus", in der man auf der Seite der Menschen stehen müsse.
Viele Menschen mit geringem Einkommen fühlten sich nicht mehr vertreten. Für sie wolle die neue Partei "den Rücken gerade machen". Viele gingen gar nicht mehr zur Wahl. "Wir haben ein Demokratieproblem", sagte Leye. Die neue Partei strebe einen langsamen Aufbau an und wolle sich langfristig etablieren.
Bündnis will "möglichst lang" Teil der Linken-Fraktion bleiben
Bis zur Gründung wollen Wagenknecht und ihre Mitstreiter mit Mandat weiter in der Linken-Bundestagsfraktion bleiben, wie sie deutlich machten. Wagenknecht begründete das auch mit Rücksicht auf Beschäftigte in der Fraktion und einem "geordneten Übergang". Spätestens ab Januar werde die Linken-Bundestagsfraktion aber nicht mehr bestehen können, fügte die 54-Jährige hinzu. Die Fraktion hat nur 38 Abgeordnete. Wenn mehr als zwei von ihnen austreten oder ausgeschlossen werden, verliert sie den Fraktionsstatus und kann nur noch als Gruppe weitermachen. Die Folge wären weniger Finanzzuweisungen aus dem Bundestagsetat und weniger Rechte im Parlamentsbetrieb. Dann stünden auch die Jobs der mehr als 100 Fraktionsmitarbeiter auf dem Spiel.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch bezeichnete den Parteiaustritt von Sahra Wagenknecht und neun weiteren Abgeordneten als "unverantwortlich und inakzeptabel". Er bestätigte, dass die zehn betroffenen Abgeordneten trotz ihres Parteiaustritts einen Antrag auf Verbleib in der Linksfraktion gestellt hätten. "Unsere Fraktion wird souverän und in großer Ruhe darüber entscheiden", kündigte Bartsch an.
Linken-Parteichef spricht von "Sauerei" und droht mit Klage
Die Linken-Parteispitze hat die Gruppe um Sahra Wagenknecht zur Rückgabe ihrer Bundestagsmandate aufgefordert und mit juristischen Schritten gedroht. Parteichef Martin Schirdewan forderte die zehn aus der Partei ausgetretenen Bundestagsabgeordneten am Montag in Berlin auf, "ihre durch die Linke errungenen Mandate niederzulegen". Die Partei werde es "notfalls einklagen", dass die ausgetretenen Abgeordneten weiter ihre Mandatsträgerabgabe an die Partei entrichteten.
Die Linke verpflichtet ihre Mandatsträger etwa im Bundestag, einen Teil der Diäten an die Partei abzugeben. Schirdewan wies darauf hin, dass nach einem Mandatsverzicht der Wagenknecht-Gruppe die vakant gewordenen Bundestagssitze aus den Reihen der Linken nachbesetzt werden könnten und der Fraktionsstatus so erhalten bleibe; allerdings hatte Wagenknecht einen Verzicht zuvor ausgeschlossen. "Ich halte das für eine echte Sauerei, auf dem Rücken der Beschäftigten der Bundestagsfraktion solche egoistischen Spiele zu betreiben", sagte Schirdewan dazu. Zur Abspaltung der Wagenknecht-Gruppe erklärte er: "Das ist eine Zäsur, das ist ein Einschnitt für die gesellschaftliche Linke."
Einer Insa-Umfrage für "Bild am Sonntag" zufolge könnten sich 27 Prozent der Befragten in Deutschland vorstellen, eine Wagenknecht-Partei zu wählen. Wahlumfragen sind aber generell mit Unsicherheiten behaftet. Die Linke-Parteispitze will gegen die Wagenknecht-Mitstreiter vorgehen. Gegen die Beteiligten des Vereins BSW sollen Parteiausschlussverfahren eingeleitet werden.
Mit Informationen von AFP und dpa
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!