Im Großen und Ganzen scheinen sich die meisten Abgeordneten im Bundestag einig zu sein: Die politischen Entscheidungen in der Corona-Zeit sollen aufgearbeitet werden, um Lehren für künftige Pandemien zu ziehen. Strittig ist allerdings die Frage, wie genau diese Aufarbeitung stattfinden soll.
Innerhalb der Bundesregierung gibt es dazu unterschiedliche Positionen. Die FDP, die in der Corona-Pandemie mehreren Schutzmaßnahmen kritisch gegenüberstand, fordert eine Enquete-Kommission einzusetzen. Enquete heißt auf Französisch Befragung.
FDP fordert eine Kommission mit Politikern
Schaffen es die Liberalen, ein Viertel der Bundestagsabgeordneten hinter ihrer Forderung zu versammeln, muss das Parlament so eine Kommission mit der Aufarbeitung beauftragen. Ein solches Gremium besteht aus Abgeordneten der im Parlament vertretenen Parteien und Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis. Am Ende steht ein Abschlussbericht, in der Regel mit konkreten gesetzlichen Empfehlungen.
Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Dürr, unterstrich vor wenigen Tagen erneut: "Für viele Menschen ist nach wie vor unklar, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen wurden und welchen Beitrag einzelne Maßnahmen geleistet haben."
Lindner: "Unverhältnismäßige Eingriffe in die Freiheitsrechte"
FDP-Parteichef Christian Lindner bekräftigte zuvor die Forderung nach einer umfassenden Analyse der politischen Entscheidungen. Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren seien "zum Teil absolut unverhältnismäßige Eingriffe in die Freiheitsrechte" gewesen, sagte der Finanzminister dem "Kölner Stadt-Anzeiger".
Lauterbach plädiert für Kommission mit Experten
Ob allerdings eine wie von der FDP geforderte Enquete-Kommission der richtige Weg ist, um die Corona-Politik aufzuarbeiten, stellt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach infrage. Der SPD-Politiker spricht sich eher für eine Expertenkommission aus, die nicht aus Politikern, sondern Wissenschaftlern und Fachleuten besteht.
Ähnliche Expertenrunde gibt es schon
So eine Kommission wurde kürzlich unter dem Namen "Gesundheit und Resilienz" gegründet - angesiedelt im Bundeskanzleramt. Mehr als 20 Wissenschaftler arbeiten daran, wie sich Deutschland auf neue Pandemien und Krisen vorbereiten sollte. Diese Runde könnte auch die Corona-Aufarbeitung übernehmen.
Lauterbach betont jedenfalls: Aufarbeitung und Transparenz seien notwendig, "damit sich nicht noch mehr Verschwörungstheorien um die damalige Zeit herum aufbauen". Als Regierungsmitglied will er dem Bundestag aber keine Vorschläge machen, wie das Parlament konkret vorgehen soll.
Habeck spricht sich ebenfalls für Corona-Aufarbeitung aus
Auch Spitzenpolitiker der Grünen in der Regierung sprechen sich für eine generelle Aufarbeitung aus. Vize-Kanzler Robert Habeck sagt, die Politik müsse den Mut haben, Auswirkungen zu überprüfen und Lehren zu ziehen. Er räumt ein, dass sich die frühere Bundesregierung, die Große Koalition, in einer schwierigen Lage befand. "Sicherlich sind da auch Fehler passiert, aber genauso wäre es ein Fehler gewesen, nicht zu entscheiden", erklärt Habeck.
Ähnlich wie in der Ampel-Regierung wird die Debatte in diesen Tagen unter Bundestagsabgeordneten geführt. Aus dem Parlament kommen weitere Vorschläge, wie die Corona-Maßnahmen aufgearbeitet werden könnten.
Wagenknecht fordert Untersuchungsausschuss
Die frühere Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht sowie die AfD fordern einen Untersuchungsausschuss. Eine Enquete-Kommission reiche ihrer Ansicht nach nicht aus.
In so einem Ausschuss sitzen Abgeordnete des Bundestags. Meist geht es darum, ein mögliches persönliches Fehlverhalten von Verantwortlichen zu prüfen. Das Gremium kann von der Opposition auch als politisches Druckmittel genutzt werden.
Genau deshalb lehnen FDP-Vorsitzender Lindner sowie viele andere Ampel-Politiker einen Untersuchungsausschuss ab. Dieser "könne zur parteipolitischen Profilierung missbraucht" werden, sagt er. "Mir geht es aber nicht darum, Entscheider anzuklagen." Vielmehr gehe es darum, aus den Fehlern zu lernen.
Union will kein "Scherbengericht"
Unterstützung kommt aus der Union. "Ein Scherbengericht ist nutzlos und bringt uns für die Zukunft nicht weiter", sagt der Mediziner und CSU-Politiker Stephan Pilsinger auf BR24-Anfrage. Diese Gefahr bestünde aber auch bei einer Enquete-Kommission. Deshalb dürfe es bei so einer Aufarbeitung "nicht nur darum gehen, was schlecht gelaufen ist und wer schuld daran ist". Parteikollege Erich Irlstorfer, Mitglied des Gesundheitsausschusses des Bundestags, will sich noch nicht festlegen, welche Form des Gremiums das geeignetste ist. Es müsse jedenfalls aus Laien und Fachleuten besetzt sein. Ob und wann die Union einen entsprechenden Antrag stellen wird, sei bislang nicht entschieden.
Als Spitze gegen CDU und CSU kann jedoch die jüngste Forderung von FDP-Fraktionschef Christian Dürr verstanden werden: Sein Aufarbeitungswunsch richte sich "natürlich auch an die Union und den ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der sicher Licht ins Dunkle bringen könnte", so Dürr im Interview mit der "Funke Mediengruppe".
Patientenschützer machen Druck
Patientenschützer beobachten die Debatte um den richtigen Aufarbeitungsweg skeptisch. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, mahnt: Weitere Diskussionen würden das Verfahren nur unnötig verzögern. Es gelte nun, einen konkreten Antrag in den Bundestag einzubringen, damit eine Enquete-Kommission starten kann. Eine Mehrheit im Bundestag sei da, glaubt er. Sich mit den Fakten nun zügig auseinanderzusetzen, helfe, die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. "Denn Schweigen ist toxisch", so Brysch.
Im Video: Gespräch mit dem Philosophen Nida-Rümelin
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