Neugeborene in der Schifa-Klinik am 12.11.2023. Sie mussten Inkubatoren entnommen werden, die aufgrund Treibstoffmangels nicht mehr arbeiteten.
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Neugeborene in der Schifa-Klinik am 12.11.2023. Sie mussten Inkubatoren entnommen werden, die aufgrund Treibstoffmangels nicht mehr arbeiteten.

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Chaos in Schifa-Klinik: Humanitäre Lage in Gaza spitzt sich zu

Die humanitäre Lage im Gazastreifen verschlechtert sich täglich. Besonders die Lage im Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt bewegt die Menschen, dort starben mittlerweile offenbar sieben Neugeborene. Ärztevertreter fordern einen Waffenstillstand.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Viele Palästinenser haben nach UN-Angaben das größte Krankenhaus in der Stadt Gaza verlassen, vor dem sich israelische Soldaten und Hamas-Kämpfer Gefechte liefern. Einige Familien hätten mittelschwer verletzte Angehörige bei der Flucht aus dem Schifa-Krankenhaus mitgenommen, sagte am Montag ein UN-Vertreter, der anonym bleiben wollte. Die Patienten, die zurückblieben, seien auf spezielle Vorkehrungen zur Evakuierung angewiesen, darunter ausreichend ausgestattete Rettungswagen, um sie nach Ägypten zu bringen.

Noch immer mehr als 3.600 Menschen auf dem Gelände

Nach Darstellung des Direktors der Krankenhäuser im von der militant-islamistischen Hamas regierten Gazastreifen, Mohammed Sakut, befanden sich auf dem Gelände des Krankenhauses noch etwa 650 Patienten, 500 Mitarbeitende des Gesundheitswesens und etwa 2.500 Vertriebene. Am Wochenende hatte das Gesundheitsministerium des Gazastreifens angegeben, es befänden sich rund 1.500 Patienten, 1.500 medizinische Angestellte und rund 15.000 Vertriebene vor Ort.

Flüchtende berichteten am Wochenende von ihren Erfahrungen aus der Klinik. "Wir haben am Schifa-Krankenhaus Schutz gesucht. Die Entbindungsstation wurde getroffen, ein Fahrzeug wurde getroffen und eine Wohnung in der Nähe. Ich habe Angst um meine Familie, die Kinder, die Älteren. Es gab eine Menge Angriffe und Bomben, sogar neben dem Schifa-Krankenhaus. Wir wussten nicht, wo wir schlafen sollten", berichtet Karam al-Sawafiri.

Offenbar mittlerweile sieben Neugeborene gestorben

Krankenhausvertreter haben die Sicherheitslage in der Schifa-Klinik als Belagerung beschrieben. Das israelische Militär teilte mit, es habe denjenigen, die die Gegend verlassen wollten, einen sicheren Fluchtkorridor angeboten. Die Situation im Krankenhaus soll sich am Wochenende verschlechtert haben.

Einem UN-Bericht zufolge waren seit dem Totalausfall des Stroms am Samstag zwei zu früh geborene Babys und zehn andere Patienten gestorben. Das UN-Nothilfebüro OCHA bezieht sich dabei auf Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinenserbehörde in Ramallah im Westjordanland. Unabhängig ließen sich die Angaben zunächst nicht überprüfen – bei früheren Konflikten in der Region stellten sich derartige Meldungen im Nachhinein allerdings als akkurat heraus.

Derzeit seien noch 36 weitere Frühchen, die auf Brutkästen und damit Strom angewiesen sind und mehrere Dialysepatientinnen und -patienten wegen des Stromausfalls in akuter Lebensgefahr. Ein Arzt der Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen erklärte, 17 Patienten befänden sich auf der Intensivstation.

Am Montagnachmittag meldete das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium dann, dass mittlerweile sieben Neugeborene nach dem Abschalten der Sauerstoffgeräte gestorben seien. Das Fehlen von Treibstoff habe insgesamt zum Tod von 34 Patienten geführt, teilte das Gesundheitsministerium in Gaza mit.

100 Leichen verwesen auf dem Krankenhaus-Gelände

Der letzte Generator, der noch Strom lieferte, sei am 11. November mangels Treibstoff ausgefallen, hieß es in dem Bericht. Auf dem Krankenhausareal verwesten rund 100 Leichen, die nicht beerdigt werden könnten, berichtete OCHA weiter unter Berufung auf das Gesundheitsministerium der Palästinenserbehörde. Den Angaben zufolge herrschen dort verheerende hygienische Zustände. Auf den Stationen sammelten sich medizinische Abfälle, die nicht sachgerecht entsorgt werden könnten, hieß es.

Schon zuvor hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Lage in dem Klinikkomplex mit rund 700 Betten angeprangert. Wegen der Kämpfe zwischen dem israelischen Militär und der islamistischen Hamas in unmittelbarer Nähe und des Treibstoffmangels sei eine medizinische Versorgung kaum noch möglich, hieß es. Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, schrieb auf X: "Die Welt kann nicht schweigen, während Krankenhäuser, die sichere Zufluchtsorte sein sollten, in Schauplätze des Todes, der Verwüstung und der Verzweiflung verwandelt werden." Ghebreyesus forderte einen sofortigen Waffenstillstand.

Hälfte der Krankenhäuser in Gaza geschlossen

Nach UN-Angaben sind inzwischen die Hälfte der Krankenhäuser in Gaza geschlossen. Das Al-Kuds-Krankenhaus in der Stadt Gaza soll evakuiert werden. Nachdem am Sonntag der Betrieb eingestellt worden sei, weil es keinen Treibstoff mehr für die Generatoren gebe, werde jetzt die Räumung der Klinik vorbereitet, teilte der Palästinensische Rote Halbmond am Montag mit. Israelische Soldaten seien in der Nähe stationiert, und es müssten rund 6000 Patienten, medizinisches Personal und Vertriebene in Sicherheit gebracht werden, hieß es in einer Mitteilung des Roten Halbmonds, der die Klinik betreibt. Ein Vertreter der Hamas-Behörden erklärte zudem, die "erzwungene Evakuierung der Kinderkrankenhäuser Al-Nasr und Al-Rantissi" habe dazu geführt, dass "die Kranken ohne Behandlung auf der Straße sind".

Das israelische Militär hatte zuvor mitgeteilt, dass es für die zwei Krankenhäuser "die Evakuierung ermöglicht" habe. Von unabhängiger Seite konnten die Angaben beider Seiten nicht überprüft werden.

Widersprüchliche Aussagen zu Treibstoff-Spende

Das israelische Militär berichtete, es habe in der Nähe des Schifa-Krankenhauses 300 Liter Treibstoff für die Generatoren des Krankenhauses abgestellt. Doch hätten Hamas-Extremisten das Krankenhauspersonal daran gehindert, den Treibstoff zu holen.

Der Direktor der Krankenhäuser, Mohammed Sakut, sagte, eine solche Menge wäre ohnehin nicht einmal genug, um die Generatoren für eine Stunde zu betreiben. Das Schifa-Krankenhaus brauche 8.000 Liter Treibstoff pro Tag. Er warf dem israelischen Militär vor, auch das Sauerstofflager der Klinik beschossen zu haben. Deshalb sei man jetzt auf die verbliebenen Sauerstoffflaschen angewiesen. Unabhängig ließen sich seine Angaben nicht überprüfen. Die israelische Armee vermutet unter dem Klinik-Komplex eines der Hauptquartiere der Terrororganisation Hamas.

Baerbock für "humanitäre Pausen" – aber gegen Waffenstillstand

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) machte sich erneut für "humanitäre Pausen" im Nahost-Krieg stark. Es sei zentral, "dass die humanitäre katastrophale Lage in Gaza eingedämmt wird und dass die Nonstop-Gefährdung Israels durch die Hamas durch die terroristischen Akteure unterbunden wird, damit Israel und seine Menschen in Sicherheit und Frieden leben können", sagte sie am Montag am Rande eines Treffens mit ihren EU-Kollegen in Brüssel.

"Die bittere Realität ist, dass wir nur in kleinsten Schritten vorankommen", betonte Baerbock nach einer Reise in den Nahen Osten. Sie verstehe zwar den Impuls Frankreichs und der UNO, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern. "Aber Impulse reichen eben nicht aus, um Menschen zu helfen, um wirklich Sicherheit und Frieden zu garantieren", betonte sie. Damit bleibe die Frage unbeantwortet, wie Israels Sicherheit gewährleistet werden könne und was mit den mehr als 200 Geiseln in der Gewalt der Hamas-Miliz geschehe. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand oder einer längeren Kampfpause zuvor zurückgewiesen. Hilfsorganisationen forderten die Bundesregierung am Montag auf, sich für eine Feuerpause im Gazastreifen einzusetzen. Die Lage dort sei eine humanitäre Katastrophe, heißt es in einer am Montag veröffentlichten Erklärung von Misereor, terre des hommes und medico international. Zerstörungen müssten gestoppt werden, und die Zivilbevölkerung dürfe keiner Gewalt ausgesetzt werden. Außerdem müssten Hilfsgüter "umgehend und im ausreichenden Maße" geliefert werden können.

EU-Spitzenpolitiker drängen auf substanzielle Feuerpausen

Der EU-Kommissar für Krisenmanagement, Janez Lenarcic, betonte in Brüssel, die dringend benötigten Feuerpausen müssten "bedeutsam" sein. Sie müssten es humanitären Helfern erlauben, ihre Arbeit in Sicherheit zu tun. "Das ist bisher nicht der Fall", kritisierte er mit Blick auf Israel. Besonders dringend sei Treibstoff, damit die Krankenhäuser im Gazastreifen weiter arbeiten könnten.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell drängte auf schnelle Hilfslieferungen von Wasser, Treibstoff und Lebensmitteln. Er hatte zuvor im Namen der 27 Mitgliedsländer erklärt, die EU schließe sich den Forderungen nach "sofortigen" Kampfpausen und der "Einrichtung humanitärer Korridore" an, um die Bevölkerung des Gazastreifens versorgen zu können. Um Hilfslieferungen zu ermöglichen, brauche es unter anderem auch eine Seeroute. Im dazugehörigen Statement verurteilte die EU auch die "Nutzung von Krankenhäusern und Zivilisten als menschliche Schutzschilde durch die Hamas".

Asselborn für mehr Druck auf Israel

Der scheidende luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat eine klare Sprache der Europäischen Union gegenüber Israel gefordert. Es stimme zwar, dass die Hamas Krankenhäuser als Schutzschilde nutze, sagte er am Montag bei einem EU-Außenministertreffen in Brüssel. Man müsse aber dennoch auch den Mut haben, den Freunden in Israel zu sagen, dass man Hilfsorganisationen wie den Ärzten ohne Grenzen und dem Chef der Weltgesundheitsorganisation zuhören müsse.

"Hier sind Babys, die ersticken, weil kein Sauerstoff mehr da ist. Es sind Menschen, die in der Intensivstation liegen und keine Chance haben", sagte er mit Blick auf Berichte über dramatische Zustände in Krankenhäusern im Gazastreifen. Das unendliche Leid, das in Israel geschehen sei, dürfe sich nicht in Gaza wiederholen. Krankenhäuser dürften kein Schlachtfeld sein, mahnte er.

"Die Geschichte wird uns das nicht verzeihen", warnte Asselborn, der in Kürze aus dem Amt scheiden wird, weil seine sozialdemokratische Partei LSAP nach den jüngsten Wahlen in Luxemburg nicht mehr an der Regierung beteiligt sein wird.

Mit Informationen von dpa, Reuters, AFP

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