Sidal Taş ist engagiert - in der Alevitischen Gemeinde München leitet die 23-Jährige die Jugendgruppe und unterstützt junge Menschen. Bald will sie auch als Lehrerin Schülerinnen und Schüler fördern. Derzeit studiert sie an der LMU in München im fünften Semester Lehramt fürs Gymnasium. Ihre Fächer: Biologie, Chemie und Mathematik. "Ich studiere fast nur mit Deutschen und bin in meinem Semester und meiner Fächerkombination tatsächlich eine der wenigen Studenten mit Migrationshintergrund", erzählt sie.
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BLLV fordert seit Langem mehr Diversität
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) fordert seit Langem mehr Diversität in der Lehrerschaft. "Kinder brauchen Vorbilder und wenn Kinder mit Migrationshintergrund eine Lehrkraft mit Migrationsgeschichte haben, dann sehen die: ‚Hey, es geht, es ist alles möglich'", betont Präsidentin Simone Fleischmann. Auch der Deutsche Lehrerverband findet es wichtig, mehr Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte für Schulen zu gewinnen. "Da geht es auch darum, dass diese wichtige interkulturelle Kompetenzen haben, um beispielsweise Flüchtlingskinder das Ankommen und die Integration zu erleichtern", sagt Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger.
Lehrerberuf rangiert bei Studenten mit Migrationsgeschichte weit hinten
Das bayerische Kultusministerium bemüht sich, Schüler - auch mit Migrationshintergrund - zum Beispiel in einem mehrtägigen Kurs wie kürzlich beim Schülercampus PLUS 2023 für den Lehrerberuf zu begeistern. Bisher gibt es Statistiken zufolge nur wenige Lehrer, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben: An Mittelschulen in Bayern waren es im Schuljahr 2021/22 zum Beispiel zwei Prozent, an Gymnasien ein Prozent. Wie viele Lehrer mit deutschem Pass einen Migrationshintergrund haben, wird nicht erhoben. "Leider rangiert der Lehrerberuf bei Studenten mit Migrationsgeschichte relativ weit hinten", so Meidinger. "Als soziale Aufstiegsberufe gelten da eher medizinische, technische, rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge und Berufsfelder."
"Lehrkräfte haben mein Potenzial nicht gesehen"
Sidal Taş ist stolz, dass sie es bis an die Universität geschafft hat, denn der Weg dahin war beschwerlich. "Meine Lehrkräfte haben mein Potenzial nicht gesehen und mich immer schlechter eingeschätzt als ich war", erinnert sie sich. "Meine Grundschullehrerin war zum Beispiel der Meinung, dass ich besser auf der Realschule aufgehoben wäre, obwohl ich den Schnitt fürs Gymnasium hatte." Auch ihre 18 Jahre alten Zwillingsschwestern Zelal und Zilan mussten sich in der Schulzeit immer wieder behaupten. "Uns wurde in der 8. Klasse bei der ersten schlechten Note empfohlen, vielleicht doch besser auf die Realschule zu wechseln", so Zilan, die inzwischen an der TU München Lebensmitteltechnologie studiert. Ihre Schwester studiert Jura.
Die aus der Türkei stammenden Eltern der drei jungen Frauen, die in Deutschland geboren sind, haben sich immer für sie eingesetzt. "Meine Mutter hat vor der Einschulung darauf gedrängt, dass wir – obwohl wir schon gut Deutsch sprachen - an dem Förderkurs teilnehmen konnten", so Zelal. Die Eltern haben ihre Kinder gefördert, Nachhilfe bezahlt und hatten das Selbstbewusstsein, ihre Töchter auch gegen die Empfehlung der Lehrer aufs Gymnasium zu schicken. Auch Sidal hat ihren jüngeren Schwestern immer wieder geholfen. Noch bevor die beiden eingeschult wurden, spielte sie zu Hause mit ihnen Schule und übte einfache Rechenaufgaben. Später ging sie - wenn nötig - auch mal in die Sprechstunde. Doch diese Unterstützung haben nicht alle Kinder.
Schüler mit Migrationshintergrund benachteiligt
Noch immer haben Schüler mit Migrationshintergrund Nachteile, "beispielsweise wegen fehlender ausreichender Sprachkenntnisse bei der Einschulung und der Tatsache, dass wir ein extrem segregiertes Schulwesen haben, bei dem diese weitgehend unter sich sind. Das ist lern- und integrationsfeindlich", so Meidinger. An Mittelschulen in Bayern hatten 2021/22 laut Kultusministerium 44,1 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, an Gymnasien sind es 15,4 Prozent.
In der Schulstatistik stützt sich die Definition für den Migrationshintergrund auf die "Staatsangehörigkeit", die "Verkehrssprache in der Familie“ (Muttersprache) und das "Geburtsland". Ein Migrationshintergrund liegt laut Statistik dann vor, wenn mindestens eines dieser drei Merkmale in nichtdeutscher Ausprägung vorliegt.
Bildungserfolg vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Eltern abhängig
Simone Fleischmann vom BLLV kritisiert zum einen das bayerische Schulsystem, in dem ein Zehntel hinter dem Komma über die weitere Schullaufbahn von Viertklässlern entscheidet. Und sie kritisiert die "sehr große Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozio-ökonomischen Hintergrund des Elternhauses". Kinder von Eltern, "die die Kohle haben und sich Nachhilfe leisten können und Zeit haben, um ihre Kinder individuell zu unterstützen, haben einen klaren Vorteil", so die langjährige Lehrerin und Direktorin.
Kinder mit Förderbedarf gehen auf dem Gymnasium oft unter
Fleischmann verteidigt allerdings auch die Empfehlungen vieler Lehrerinnen und Lehrer, wenn sie Kindern mit Förderbedarf empfehlen, nicht aufs Gymnasium zu gehen. "Wenn wir mehr Lehrkräfte hätten und bessere Förderstrukturen, könnten wir Talente entdecken und auch entsprechend fördern. Aber viele Grundschullehrer wissen einfach, dass Kinder mit großem Förderbedarf auf dem Gymnasium oft untergehen, auch wenn sie blitzgescheit sind." Zwar sei das bayerische Schulsystem durchlässig, doch tendenziell eher von "oben nach unten", sagt Fleischmann. "Wir haben auf einen Aufsteiger - von einer niedrigeren auf eine höhere Schulart - drei Absteiger."
Sidal Taş: "Mehr Förderstunden, mehr individuelle Unterstützung"
Sidal Taş will später als Lehrerin auch gegen Vorurteile kämpfen. "Aus der Jugendarbeit in der alevitischen Gemeinde weiß ich, dass viele Kinder wegen ihres türkischen oder kurdischen Namens in Schulen Diskriminierung und Rassismus erleben." Als angehende Lehrerin wünscht sie sich, dass sie eines Tages Schüler – egal welchen Hintergrund sie haben – ermutigen und fördern kann. "Es braucht mehr Förderstunden, mehr individuelle Unterstützung."
Doch neben dem allgemeinen Lehrermangel mangelt es auch an qualifizierten Lehrkräften, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten könnten. "Deutsch als Fremdsprache ist eine Fachwissenschaft. Viele Lehrer, die darin gar nicht ausgebildet sind, geben ihr Bestes, aber es bräuchte viel mehr speziell ausgebildete Lehrkräfte, um Sprachdefizite auszugleichen", so Fleischmann. "Denn oft hapert es gar nicht an Mathe, sondern daran, dass die Schüler einfach die Aufgabenstellung nicht verstehen, das tut uns als Lehrer weh."
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