Vor genau drei Monaten - am 6. Februar - erschütterte um 4.17 Uhr ein Beben der Stärke 7,7 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Ein weiteres der Stärke 7,6 folgt um 13.24 Uhr. Mehrstöckige Gebäude fielen wie Kartenhäuser zusammen. Rund 60.000 Menschen kamen ums Leben. Tatsächlich dürfte die Zahl deutlich höher sein – die türkische Ärztevereinigung TTB meldete starke Zweifel an der offiziellen Statistik an. Auch werden viele Menschen noch vermisst, wie viele ist unklar – es gibt keine offiziellen Zahlen. Viele Überlebende haben das Katastrophengebiet verlassen, einstige Großstädte wirken wie ausgestorben. Andere harren seitdem in Zelten und Containern aus.
"Lage noch immer schwierig"
Auch drei Monate nach der Katastrophe ist "die Lage noch immer schwierig", sagt Johannes Peter, Vorstand bei der Hilfsorganisation Humedica aus Kaufbeuren. Peter ist erst vor zwei Wochen aus der Erdbebenregion zurückgekehrt und vom Ausmaß der Zerstörung noch immer erschüttert. "Ich war zum Beispiel in Antakya, das ist unfassbar. So etwas habe ich noch nie gesehen", so Peter.
Im ganzen Stadtgebiet seien Lücken, wo einst Häuser standen. Alleine in Antakya müssten noch rund 17.000 zerstörte und beschädigte Häuser abgerissen werden. In den Camps herrsche Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. "Das ist ja auch eine Art von Doppeltrauma", erklärt er. Zuerst das Trauma des Erdbebens und "auf einmal findet man sich in so einem Flüchtlingslager-Szenario wieder, wo man Zeltwand an Zeltwand lebt und die hygienische Versorgung nicht so gut ist, also das ist wirklich hart".
Psychosoziale Hilfe und Feldkrankenhaus
Die Hilfsorganisation unterstützt deshalb derzeit in der Türkei unter anderem Projekte im psychosozialen Bereich. "Da geht es um die Bewältigung der Katastrophe. Psychologen versuchen, den Menschen dabei zu helfen, das aufzuarbeiten, was sie erlebt haben." Außerdem baut die schwäbische Organisation zusammen mit Partnern ein Feldkrankenhaus und eine Gesundheitsstation in Syrien auf, die vor allem für Mütter und Kinder eine Anlaufstelle sein soll. Die Menschen bräuchten noch sehr lange Hilfe. Im Moment rechnet die Organisation damit, dass sie noch ein bis zwei Jahre vor Ort bleiben werde.
Hunderte Tonnen Hilfslieferungen aus Bayern
Humedica ist nur eine von vielen Organisationen aus Bayern, die nach der Katastrophe geholfen hat. Bestatter aus Schweinfurt halfen bei der Suche nach Toten, das Technische Hilfswerk oder auch das Bayerische Rote Kreuz schickten Retter, Helfer und Hilfsgüter. Auch türkische Auslandsvertretungen koordinierten und organisierten Hilfe: "Aus dem Zuständigkeitsgebiet unseres Generalkonsulates (Oberbayern/Niederbayern/Schwaben) wurden bisher insgesamt 137 Lkw-Ladungen (ca. 900 Tonnen) und mit der Unterstützung der Turkish Airlines insgesamt ca. 890 Tonnen mit 89 Flügen an Hilfsgütern in die Türkei gebracht”, teilte das Generalkonsulat der Republik Türkei in München auf BR24-Anfrage mit. Aktuell liefen keine weiteren Sammelaktionen und Transporte mehr aus Bayern, heißt es in dem Statement.
Freiwillige sammeln Spenden
Viele Vereine, Moscheegemeinden und Freiwillige sammeln jedoch weiter Spendengelder, so wie Kemal Sağlam. Als Vorstandvorsitzender des Dachverbands Türkischer Vereine Augsburg sammelt er Gelder und leitet diese an den Roten Halbmond und die Katastrophenschutzbehörde AFAD weiter. Er hat Wochen damit zugebracht, Hilfe zu organisieren und zu koordinieren. "Im Moment sammeln wir keine Hilfsgüter mehr, sondern nur noch Geld", sagt Sağlam. Auch er sagt: "Die Menschen brauchen noch immer Hilfe und zwar nicht nur für ein paar Monate, sondern für lange Zeit." Deshalb plant er zusammen mit anderen Freiwilligen bereits die nächste Aktion. "Mit der Stadt Augsburg haben wir eine Koordinierungsgruppe von Freiwilligen gegründet." Zusammen wollen sie in Kürze ein Straßenfest organisieren. Die Einnahmen sollen den Erdbebenopfern zu Gute kommen.
Alevitische Gemeinde schickte Hilfsgüter
Auch die Alevitische Gemeinde München hatte schon am zweiten Tag nach dem Erdbeben die ersten Lastwagen mit Hilfsgütern geschickt. "Leider ist nicht immer alles bei den Menschen angekommen", kritisiert Dilek Bilenler, zweite Vorsitzende der Gemeinde. Die türkische Regierung habe es nicht geschafft, die Hilfe vor Ort gerecht zu verteilen. Tatsächlich ist die Erdbebenregion riesig. Alleine in der Türkei sind zehn Provinzen betroffen. Doch schon kurz nach dem Beben gab es Kritik, dass die Hilfe zu spät angelaufen sei.
Bilenler prangert zudem an, dass Hilfslieferungen teilweise vom Katastrophenschutz AFAD "umgeleitet" und Label anderer zum Teil regierungsnaher Organisationen auf Lieferungen geklebt wurden. "Aleviten und Alevitinnen haben kein Vertrauen in die Regierung. Wir hoffen deshalb auf die Wahl am 14. Mai und dass es danach gerechter zugeht“, sagt Bilenler.
Kritik an Erdbebenhilfe könnte Erdoğan Stimmen kosten
Die Kritik an der Erdbebenhilfe könnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan Stimmen kosten – für ihn wichtige Stimmen, denn nach 20 Jahren an der Macht könnte es für den 69-Jährigen eng werden. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdoğan und seinem Hauptkonkurrenten, Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), voraus. Bilenler hofft, dass Kılıçdaroğlu, der von einem Sechserbündnis unterstützt wird, gewinnt. Der 74-Jährige gehört wie sie der Glaubensgemeinschaft der Aleviten an. Sie hofft auf einen politischen Wechsel in der Türkei und dass die Menschen im Erdbebengebiet nicht vergessen werden.
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