Josef Settele ist Agrarbiologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle. Auch er hat als Wissenschaftler und leitender Autor Berichte des Weltklimarats mitverfasst und den weltweiten Forschungsstand zu den Folgen des Klimawandels auf die Natur ausgewertet. Am Montagmittag wird der zweite Band des 6. Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC) der Öffentlichkeit vorgestellt. Darin geht es auch um die Folgen der Erderwärmung auf Mensch und Ökosysteme. Die Auswirkungen auf die Natur dürften darin noch deutlicher werden als in den Vorberichten.
Dass der menschengemachte Klimawandel eine zusätzliche Bedrohung für unsere Artenvielfalt ist, daran besteht keinerlei Zweifel. Aber: Das dürfte nicht nur Biologen und Artenschützern Sorge bereiten, sondern müsste uns alle alarmieren. Denn es gibt Wechselwirkungen zwischen Erderwärmung, Biodiversität und Mensch, sagt Josef Settele im Interview mit BR24.
Der neue IPCC-Bericht wird das voraussichtlich mit neuen Fakten untermauern. Es trifft die Lebensgrundlagen von uns Menschen, wenn die Klimakrise das Verschwinden von Arten beschleunigt und das Funktionieren von Ökosystemen beeinträchtigt.
Kaum Chancen für Arten, sich anzupassen
Bisher steht fest: Die Erderwärmung trifft nicht alle Arten gleich hart, es gibt auch solche, die durch sie begünstigt werden und neue Lebensräume für sie schafft. Aber die Temperaturen steigen so schnell an, dass Arten grundsätzlich kaum Chancen haben, sich in der Geschwindigkeit anzupassen. Und zwei Grad mehr, das macht viel aus, sagt Settele. "Da wird es nicht nur für viele Pflanzenarten und Tiere schwierig, da kommt in manchen Gegenden der Erde auch der Mensch an seine physiologische Grenze."
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Blüte und Bestäuber können zeitlich auseinanderdriften
Dass die Erderwärmung lange eingespielte Abläufe durcheinanderbringt, das könne man auch jetzt schon in Deutschland beobachten. Ein Beispiel: Steigende Durchschnittstemperaturen sorgen dafür, dass Pflanzen früher blühen. Aber die dazugehörigen bestäubenden Insekten sind nicht unbedingt früher unterwegs. Außerdem sei das frühere Frühjahr keine neue, stabile Jahreszeit, es komme immer wieder zu Kälteeinbrüchen und Spätfrösten, sagt Biodiversitätsforscher Settele. Das aber hindert viele bestäubende Insekten, aktiv zu werden. "Wenn es sehr kühl ist, dann kommen nur noch Hummeln als Bestäuber der Blüten in Frage, sie sind die einzigen, die auch bei kühleren Temperaturen fliegen können."
Weniger Obst durch weniger bestäubende Insekten
Das kann aber bedeuten, dass die Bestäubungsleistung sinkt, weil Hummeln nicht überall die Arbeit ersetzen können, die sonst von einer Vielfalt an Arten verrichtet wurde. "Das schmälert den Obstertrag, und das haben wir bereits erlebt in den letzten Jahren", so Josef Settele. "Selbst wenn wir schon bald das Klima der Toskana in Bayern haben könnten: Vegetation und darauf abgestimmte Fauna können nicht so schnell bei uns einwandern."
Verlust von Arten ist nicht nur ein ethisches Problem
Aber weiter steigende Durchschnittstemperaturen werden eben auch dafür sorgen, dass Arten bei uns wie mitunter auch weltweit komplett verschwinden. "Das ist ein Verlust, weil damit auch Jahrmillionen an Anpassungsleistung, an Evolution ausgelöscht werden", so Josef Settele. Und das verursache nicht nur ein ethisches Problem, es könnte auch zu praktischen Nachteilen führen. "Genetische Vielfalt kann sich irgendwann als Vorteil herausstellen, deswegen erhalten wir ja auch seltene Haustierrassen oder Saatgut alter Kultursorten."
Artenvielfalt bietet Schutz vor neuen Krankheitserregern
Artenvielfalt bringt aber noch mehr mit sich. Sie ist auch ein Schutz vor Krankheitserregern und Pandemien, sagt Josef Settele. "Habe ich Diversität, dann können einzelne Arten nicht überhandnehmen. Wird die Vielfalt zerstört, bleiben ein paar wenige Generalisten übrig, die sich dann stark vermehren können. Und mit ihnen Keime, darunter auch potenzielle Krankheitserreger."
Wird Artenvielfalt zerstört, kann das aber auch in der Landwirtschaft unerwünschte Auswüchse haben. "Bekämpfe ich Schädlinge, trifft das eben auch Nützlinge. Am Ende kann es sogar sein, dass die natürlichen Gegenspieler stärker Schaden nehmen." Heißt: Unter Umständen erreicht man mit Pestizid-Einsatz genau das Gegenteil des eigentlichen Ziels. Die unerwünschten Schadorganismen können dadurch sogar gestärkt werden. Das habe er in Asien im Reisanbau erforscht, erzählt Josef Settele.
Klimaschutz und Artenschutz zusammen angehen
Klimaschutz und Artenschutz müssten in Zukunft viel mehr im Zusammenhang gedacht werden, fordert nicht nur er, sondern immer mehr Ökologen und auch Klimaforscher. Es ist nämlich nicht nur so, dass die Klimakrise die Artenkrise verstärkt. Vieles, was der Biodiversität hilft, kann auch dem Klimaschutz dienen oder auch dem Menschen helfen, sich an die Folgen der Erderwärmung anzupassen.
"Renaturiere ich entwässerte Moore, dann ist das gut für den Artenschutz. Intakte Moore speichern aber auch große Mengen an Kohlenstoff und leisten somit einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz", so Settele. Gibt es in einer Stadt ausgedehnte Grünzüge und viele Bäume - so trägt das dazu bei, dass hitzebedingte Gesundheitsrisiken für Menschen reduziert werden. Mehr Grün statt versiegelter Flächen kann aber auch einen Beitrag zum Schutz vor Hochwasser liefern.
30 Prozent der Flächen für Artenvielfalt vorhalten
Um den rasanten Artenverlust zu stoppen, reichen solche Maßnahmen nicht aus. 30 Prozent der Flächen müssen für Artenvielfalt zur Verfügung gestellt werden; das sieht der Entwurf des UN-Artenschutzabkommens vor. "Vielleicht müssten es auch 50 Prozent sein", meint Josef Settele. Für ihn heißt das aber nicht, dass man diese Flächen nicht mehr antastet. Denn gerade bei uns hat erst der Eingriff des Menschen artenreiche Lebensräume geschaffen, wie zum Beispiel Wacholderheiden oder Streuobstwiesen.
Weniger Ackerbau, mehr Naturschutz
Weniger Ackerbau mit Monokulturen und Agrochemie-Einsatz, dafür mehr traditionelle Bewirtschaftung: Für Josef Settele ist das keine irreale Wunschvorstellung, sondern klare Handlungsempfehlung: "Das geht, wenn wir unsere Ernährung umstellen."
60 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen werden in Deutschland für den Anbau von Tierfutter verwendet. Werde deutlich weniger Fleisch gegessen, würden diese Flächen frei. Und darauf könnte man wenige Weidetiere halten – der Fleischkonsum müsse entsprechend angepasst werden. Eine Maßnahme, die Artenschutz und Klimaschutz mit sich bringt. "Das ist realistisch, wenn die EU-Agrarförderung darauf abgestimmt ist", meint Settele. "Bauern könnten dann mit weniger Tieren und Leistungen für den Naturschutz finanziell besser aufgestellt sein, als mit der jetzigen Form der Intensiv-Tierhaltung."
Geld für Artenschutz statt für klimaschädliche Subventionen
Allein damit wäre das Klimaproblem aber auch nicht gelöst. "Als erstes müssen wir so schnell wie möglich aufhören, fossile Energieträger, insbesondere Kohle zu verbrennen", sagt Settele. Dass dafür noch immer weltweit Milliarden an Subventionen fließen, darüber kann der Wissenschaftler nur den Kopf schütteln. Geld dagegen, das in Artenschutz und naturschonende Landwirtschaft investiert würde, helfe, den Verlust an Vielfalt zu stoppen, wirke sich aber auch auf den Klimaschutz positiv aus.
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