Die Europäische Union verhängt neue Sanktionen gegen die frühere Sowjetrepublik Belarus. Darauf haben sich die 27 Staats- und Regierungschefs auf einem ohnehin geplanten Sondergipfel in Brüssel geeinigt. Damit reagiert die EU auf die am Sonntag erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk und die anschließende Verhaftung des regierungskritischen Journalisten Roman Protasewitsch. Der Rat der EU-Außenminister muss die Sanktionen noch offiziell beschließen, das nächste vorgesehen Treffen soll am Donnerstag in Portugal stattfinden.
Die Regierung von Belarus erklärte, das Flugzeug sei aufgrund einer Bombendrohung der radikal-islamischen Palästinenser-Bewegung Hamas zur Landung in Minsk angehalten worden. Die Hamas dementierte die Angaben.
EU-Gipfel fordert Freilassung von Protasewitsch
Der Vorfall sorgte schon vor dem Gipfeltreffen in ganz Europa für heftige Proteste. Ratspräsident Charles Michel sprach von einem "internationalen Skandal", Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von einem "beispiellosen Vorgehen der belarussischen Autoritäten". In einer gemeinsamen Erklärung fordern die Staats- und Regierungschefs der EU die umgehende Freilassung von Protasewitsch und seiner Partnerin, die ebenfalls festgenommen wurde.
Umfassende Sanktionen gegen Belarus beschlossen
Ein Sprecher des Europäischen Rates teilte noch während der Verhandlungen mit, dass diese Forderung zusammen mit einem umfassenden Maßnahmenpaket verabschiedet wurde. Künftig soll belarussischen Fluggesellschaften die Nutzung des Luftraums und der Flughäfen der EU untersagt werden. Umgekehrt sind EU-Airlines dazu angehalten, den Luftraum über Belarus zu meiden – eine Maßnahme, die sich nicht nur finanziell auf das Land auswirken soll, sondern alarmiert durch den Vorfall auch für den Schutz von Flugpassagieren vor Interventionen gedacht ist. Zudem fordert der Gipfel eine Untersuchung durch die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation.
Von der Leyen fordert Rückkehr auf demokratischen Kurs
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, dass Investitionen von rund drei Milliarden Euro auf Eis gelegt werden. Daran werde die EU so lange festhalten, bis Belarus wieder einen demokratischen Kurs einschlage, so von der Leyen.
Ergänzend zu den "gezielten Wirtschaftssanktionen" soll die bestehende Liste von Personen und Institutionen, die bereits mit Sanktionen belegt sind, ebenfalls erweitert werden. Zuletzt hatte die EU mehr als 50 belarussische Staatsbürger mit Einreiseverboten und Vermögenssperren belegt.
Auslöser für diese Maßnahmen waren die massiven Menschenrechtsverletzungen im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen im August. Proteste gegen den vermuteten Wahlbetrug ließ Machthaber Lukaschenko gewaltsam niederschlagen, tausende Demonstranten wurden inhaftiert – viele sitzen bis heute als politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen.
Verhafteter Journalist taucht in Video auf: Geständnis angekündigt
Auch der Verbleib des Journalisten Protasewitsch war für mehr als einen Tag unklar. Erst Montagabend tauchte ein Video in regierungsnahen Medien auf, in dem der 26-Jährige erklärt, er sei bei guter Gesundheit und werde jetzt ein Geständnis ablegen, die Massenunruhen in Minsk organisiert zu haben.
Opposition fürchtet um Gesundheit von Protasewitsch
Protasewitschs Unterstützer sind sich sicher, dass die Aussagen nur unter Druck zustande gekommen sein können. Nach Angaben der Deutschen Presse-Agentur hieß es auf oppositionellen Telegram-Kanälen, der Blogger und Journalist sehe "ziemlich gefoltert aus". "Sein Gesicht ist geschminkt, Spuren von Schlägen sind sichtbar, seine Nase ist gebrochen." Die im Exil lebende Bürgerrechtlerin und frühere Herausforderin von Machthaber Lukaschenko, Swetlana Tichanowskaja, erklärte, das Regime habe "unser Land zu einem Nordkorea inmitten von Europa gemacht".
EU-Gipfel verurteilt illegale und provokative Aktivitäten Russlands
Weiter nach hinten rückte das eigentliche Hauptanliegen des Gipfels: Die Beziehungen zu Russland, das sich hinter die Regierung von Belarus stellt. Ratspräsident Charles Michel sah die Verhältnisse über die vergangenen Monate an einem "Tiefpunkt" angelangt. Eigentlich wollten sich die führenden EU-Politiker schon früher an Lösungsansätzen arbeiten – angesichts drohender Hackerangriffe war das aber in den zurückliegenden Videokonferenzen nicht möglich. Bei den Verhandlungen in Brüssel wurden deshalb auch Handys und Tablets aus dem Konferenzraum verbannt.
Am frühen Dienstagmorgen dann der Gipfel-Beschluss: Die Staats- und Regierungschefs verurteilen die "illegalen, provokativen und störenden Aktivitäten Russlands gegen die EU". Die Mitgliedstaaten sind seit Jahren Ziel von Hackerangriffen und Desinformationskampagnen. Hinzu kommt der Konflikt mit Tschechien. Im April wurde bekannt, dass eine tödliche Explosion in einem tschechischen Munitionslager russischen Agenten zugeschrieben wird. Prag reagierte mit der Ausweisung zahlreicher Diplomaten und Botschaftsangehöriger.
EU will am Dialog mit Moskau festhalten
Der Europäische Rat stellt sich ausdrücklich hinter diesen Schritt, will aber gleichzeitig am Konzept der "Fünf Prinzipien" für den Umgang mit Moskau festhalten, das im Kern auf Dialog setzt. Bis zum nächsten EU-Gipfel im Juni soll der Außenbeauftragte Josep Borrell einen umfassenden Bericht über die Beziehungen zu Russland vorlegen. Beobachter erhoffen sich von diesem Schritt eine Versachlichung der zuletzt aufgeladenen Debatte.
Zum Abschluss des ersten Tages befasste sich der Gipfel mit den Beziehungen zu Großbritannien nach dem Brexit. Am Dienstag stehen die Klimaziele der EU und die gemeinsame Corona-Strategie auf der Tagesordnung.
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