08.04.2014, Sachsen-Anhalt, Sangerhausen: Ein Schild weist den Weg zur Agentur für Arbeit. (Symbolbild)
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Warum verbreiten sich Falschbehauptungen über das Bürgergeld?

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#Faktenfuchs: Die ewige Debatte um das Bürgergeld

#Faktenfuchs: Die ewige Debatte um das Bürgergeld

Diskussionen um Arbeitslosengeld, Hartz IV oder Bürgergeld gehören zum Inventar der deutschen Politik. Weshalb sie immer wiederkehren, heftig geführt werden und warum sich Falschinformationen dazu leicht verbreiten: Ein #Faktenfuchs.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Darum geht's:

  • In Diskussionen um das Bürgergeld verbreiten sich regelmäßig falsche oder irreführende Behauptungen über die Höhe der Leistung.
  • Die Komplexität des Themas erleichtert die Verbreitung einfacher Aussagen.
  • Außerdem können Falschbehauptungen Emotionen wie das Gerechtigkeitsgefühl, Abstiegsangst oder Unsicherheit ansprechen.

Debatten um arbeitssuchende und arbeitslose Menschen und die Leistungen für sie tauchen in der bundesdeutschen Geschichte immer wieder auf. Allein von 1978 bis 2001 gab es vier politische Debatten um angebliche "Faulheit", fassen Politikwissenschaftler in einem Papier zusammen. Schlagwörter wie "Freizeitpark Deutschland" (Helmut Kohl) und "Kein Recht auf Faulheit" (Gerhard Schröder) sind manchen Personen möglicherweise noch in Erinnerung.

  • Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier.

Solche teils auch hitzigen Diskussionen sind in einem Sozialstaat stets zu erwarten, sagt die Politikwissenschaftlerin Jutta Schmitz-Kießler, Professorin an der Universität Bielefeld, im Interview mit dem #Faktenfuchs. Denn es gehe um eine sehr emotionale Frage, die nach sozialer Gerechtigkeit: "Wie hoch darf eigentlich die Grundsicherung sein, damit sich nicht diejenigen benachteiligt fühlen, die arbeiten?"

Weshalb verfangen Falschinformationen?

Jutta Schmitz-Kießler sagt: “Falschinformationen gibt es in der Sozialpolitik immer wieder.” Allgemein gilt: Gerade große und komplexe sowie emotionale und polarisierende Themen sind anfällig für die Verbreitung von Falsch- und Desinformation.

Beides trifft auf Behauptungen zum Bürgergeld zu. Vor allem Behauptungen zur Höhe des Bürgergelds und zu den Empfängern tauchen regelmäßig mit hoher Reichweite auf.

Das Sozialrecht sei komplex, sagt Jutta Schmitz-Kießler. "Und Angebote, die das ganz einfach für uns strukturieren, die sind erstmal verführerisch." Wenn man ausrechnen wolle, ob ein Bürgergeld-Haushalt oder ein alleinverdienender Mindestlohn-Arbeitnehmer mehr Geld habe, dann sei vieles zu beachten: Wie viel Geld gibt es für Mieten, Heizkosten, was wird beim Bürgergeld-Regelsatz möglicherweise abgezogen, wie viel Geld erhält der Arbeiter-Haushalt für andere Sozialleistungen?

Bürgergeld-Diskussion hat mit Gerechtigkeitsgefühl zu tun

"Da kann man natürlich total gut und relativ einfach Emotionen auslösen", sagt Marisa Wengeler zum Thema Bürgergeld. Wengeler arbeitet beim Institute for Strategic Dialogue (ISD) Germany, einer gemeinnützigen Denkfabrik, als Expertin im Bereich Desinformation. So könne man mit falschen Behauptungen Wut auf Menschen erzeugen, die es sich in der angeblichen ‘sozialen Hängematte’ bequem machen würden.

Aber wieso reagieren Menschen bei diesem Thema so emotional? Das hänge mit dem Gerechtigkeitsgefühl zusammen, sagt der Sozialpsychologe Andreas Hövermann. Hövermann arbeitet beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Manche Menschen fühlen sich im Vergleich mit Bürgergeld-Empfängern ungerecht behandelt, sagt er.

"Das Gerechtigkeitsgefühl kann ganz starke Emotionen auslösen", sagt Hövermann. Bei dem Thema Arbeit gehe es um etwas, das jeder jeden Tag erlebe. Jemand, der sich tagtäglich aus dem Bett quäle, der hart arbeite und eventuell das Gefühl habe, nicht ausreichend zu verdienen - bei so jemandem könne das Bild des "faulen" Bürgergeldempfängers verfangen.

Der Soziologe Steffen Mau von der Humboldt-Universität Berlin hat bei seinen Forschungen zu "Triggerpunkten" der Gesellschaft das gleiche herausgefunden. "Menschen, die wenig verdienen, sehen Transferempfänger sehr kritisch, wenn sie annehmen, diese seien nicht leistungsbereit, würden morgens nicht aufstehen und arbeiten und so kaum Beiträge zur Gesellschaft leisten", sagte Mau zum Beispiel in einem Interview dem Tagesspiegel. Transferempfänger sind Menschen, die bedürftig sind und Geld vom Staat erhalten, ohne dass sie eine direkte Gegenleistung wie zum Beispiel Beiträge zahlen.

Abstiegsangst in Krisenzeiten kann ein Faktor sein

Ein weiteres Gefühl, das die Verbreitung von Falschinformationen zum Bürgergeld befördern kann: Abstiegsangst. Nicht nur armutsgefährdete Menschen oder ökonomische Modernisierungsverlierer, sondern auch Menschen aus der sozialen Mitte der Gesellschaft fühlten sich von einem wirtschaftlichen Abstieg bedroht, sagt Jutta Schmitz-Kießler. Sie würden "aus Gefühlen der Unsicherheit heraus diesem Diskurs Glauben schenken und sich auch anschließen". In einem Bericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) wurden Daten aus einer repräsentativen Umfrage mit 4000 Personen ausgewertet: In der Gruppe, die als Mittelschicht definiert wurde, sorgten sich im Jahr 2023 knapp die Hälfte um ihren zukünftigen Lebensstandard.

Neu ist das nicht: Auch in der Vergangenheit fielen die erwähnten "Faulheits"-Debatten um Arbeitslose in drei von vier Fällen mit Rezessionen und einem Anstieg der Arbeitslosenquote zusammen, nämlich 1975, 1981 und 1993. Auch in den letzten Jahren hätten Krisen zu finanziellen Belastungen für viele Menschen geführt, sagt Andreas Hövermann vom WSI. Das könne negative Emotionen gegenüber Bürgergeld-Empfängern auslösen: "Das spielt eine große Rolle, wenn man selbst harte Einschnitte machen muss. Das verstärkt dann auch noch mal das Ungerechtigkeitsgefühl, wenn geglaubt wird, dass andere das nicht machen müssen."

Experten: Ökonomische Einstellungen erleichtern es, Menschen abzuwerten

Komplexität, Gerechtigkeitsgefühl, Abstiegsangst: All das kann dazu führen, dass die Diskussion um das Bürgergeld hitzig wird und Fakten verdreht werden, sagen Experten. Doch es gibt noch eine grundlegende Erklärung dafür, weshalb Menschen hierzu Falschinformationen Glauben schenken.

Der Sozialpsychologe Andreas Hövermann und seine Kollegin Eva Groß, Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei Hamburg, haben dazu mehrere Studien veröffentlicht: Darin argumentieren sie, dass in der deutschen Bevölkerung Einstellungen und Werthaltungen verbreitet sind, die Menschen nach ökonomischen Kriterien bewerten. Menschen beurteilen andere Menschen danach, ob sie "nützlich", "profitabel" oder "effizient" sind. Einer extremen Aussage wie "Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich keine Gesellschaft leisten" stimmten in repräsentativen Befragungen der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2016 11,7 Prozent zu.

Die Argumentation dahinter ist folgende: Wer es nicht selbst schafft oder wer finanziell nicht gut dasteht, der sei selbst schuld; er hätte ja die Chance gehabt. Nach dieser Logik falle es laut Hövermann leicht, zu sagen, dass "unprofitable" Menschengruppen weniger oder keine Hilfe erhalten sollten. " Die Verantwortung werde "also ausdrücklich den Einzelnen zugeschoben, womit man sich von Solidarität und letztlich auch von Mitgefühl lossagen kann", sagt Hövermann.

An diese ökonomischen Einstellungen können Behauptungen über das Bürgergeld anknüpfen. Menschengruppen, denen kein wirtschaftlicher Wert zugeschrieben wird, können deswegen leichter abgewertet werden, zum Beispiel als "Sozialschmarotzer". Das können Bürgergeld-Empfänger aber auch Migranten oder Menschen mit Behinderung sein.

Wer nutzt das Thema für welche Zwecke?

Das Thema Bürgergeld wird auf Seiten von Befürwortern und Gegnern zur Mobilisierung genutzt, sagen die Expertinnen und Experten. "Man muss natürlich noch mal unterscheiden zwischen Politikern, die Wahlkampf machen, und Akteuren, die wirklich ganz gezielt Falsch- und Desinformation verbreiten, um vielleicht auch die Gesellschaft zu destabilisieren", sagt Marisa Wengeler vom ISD Germany.

"Spaltung, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, Wir gegen Die", das sei ein Ziel von Akteuren im politischen Bereich, sagt Wengeler. "Und davon profitiert vor allem der Extremismus und der Populismus."

In die Kategorie gezielte Falsch- und Desinformation fallen für sie russische staatsnahe Medien, die mit dem Thema Stimmung gegen geflüchtete Ukrainer in Deutschland machen. Diese zielten darauf ab, dass die deutsche Unterstützung für die Ukraine gemindert werde, sagt Wengeler.

Bürgergeld-Thema soll über Kernwählerschaft hinaus mobilisieren

Die Politikwissenschaftlerin Jutta Schmitz-Kießler und der Sozialpsychologe Andreas Hövermann sagen, dass Rechtspopulisten wie die AfD das Thema benutzen, um für sich und ihre gesamte Agenda zu werben. Mit der Bürgergeld-Diskussion würden deswegen noch weitere Themen wie eine Diskriminierung von Ethnien oder Feindschaft gegenüber dem Staat verknüpft, sagt Schmitz-Kießler: Der Staat sei angeblich zu langsam, die Gesetzgebung im Parlament zu langwierig, Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund würden bevorzugt. "Das ist auch eine bewusste Verschiebung des öffentlichen Diskurses", sagt Schmitz-Kießler.

"Das große Interesse von rechtsextremen Akteuren, beispielsweise der AfD, ist hier letztlich auch als gemäßigt zu erscheinen. Dass man eine Klientel anspricht, die weit über die eigentliche Kernklientel hinausgeht. Und mit diesem Thema schafft man das sehr gut", sagt Andreas Hövermann. Mit dem Thema Bürgergeld könne man emotionalisieren, in bürgerlichen Kreisen Zuspruch bekommen und demokratische Parteien vor sich hertreiben.

Fazit

Verschiedene Gründe sorgen nach Ansicht von Experten dafür, dass sich über das Bürgergeld Falsch- und Desinformation verbreiten können: Das Thema ist komplex, es hat mit Emotionen wie Gerechtigkeit und Abstiegsangst zu tun und es spricht ökonomisch geprägte Werthaltungen in der Bevölkerung an.

Experten sagen: Rechtspopulisten und Rechtsextreme versuchen mit dem Thema weit über ihre Kernwählerschaft hinaus zu mobilisieren. Außerdem würden sie andere Punkte ihrer Agenda wie ethnische Diskriminierung und Parlamentarismusfeindlichkeit damit verknüpfen.

Quellen

Veröffentlichungen

Groß, Eva und Hövermann, Andreas: Marktförmiger Extremismus - Über die Verbindung zwischen ökonomistischen Denkweisen und menschenfeindlichen Einstellungen am Beispiel der aktuellen Flüchtlingsdebatten. In: Dossier 2016, 4: Wirtschaft, menschengerecht gedacht?. 2016, S. 14-17.

Groß, Eva und Hövermann, Andreas: Marktförmiger Extremismus. Abwertung, Ausgrenzung und Rassismus vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung der Gesellschaft. In: Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen. Weinheim: 2018, S. 110 - 126.

Hövermann, Andreas u.a.: "Sozialschmarotzer" - der marktförmige Extremismus der Rechtspopulisten. In: Wut, Verachtung, Abwertung - Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn: 2015, S. 95 - 108.

Nickel, Amelie u.a.: Entsicherte Marktförmigkeit als Treiber eines libertären Autoritarismus. In: Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Berlin: 2023, S. 243-256.

Oschmiansky, Frank u.a.: Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte. Berlin: 2001.

Schmitz-Kießler, Jutta: Hartnäckig, aber falsch: Die Kritik an der Bürgergelderhöhung. In: wsi.de, 30.08.2024.

Schmitz-Kießler, Jutta u.a.: Mythen der Sozialpolitik: Eine Blogserie. In: wsi.de, 20.07.2024.

Spannagel, Dorothee und Brülle, Jan: Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme - verunsicherte Mitte - WSI-Verteilungsbericht 2024. WSI Report Nr. 98. Düsseldorf: 2024.

Interviews

Interview mit Andreas Hövermann, Referatsleiter "Arbeit und Demokratie", Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung

Interview mit Jutta Schmitz-Kießler, Professorin für Politikwissenschaften/Sozialpolitik Hochschule Bielefeld

Interview mit Marisa Wengeler, Institute for Strategic Dialogue Germany

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