Grenzpolizisten kontrollieren Kleinlaster bei Freilassing
Bildrechte: picture alliance / SVEN SIMON | Frank HOERMANN / SVEN SIMON

Grenzpolizisten bei Kontrollen auf der B304 bei Freilassing.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Grenzkontrollen in der EU: Aus der Traum von der Reisefreiheit?

Acht EU-Staaten führen aktuell Grenzkontrollen durch. Darunter auch Deutschland. Obwohl diese eigentlich innerhalb des Schengenraums seit Jahrzehnten abgeschafft sind. Eine Doktorandin klagt nun dagegen.

Über dieses Thema berichtet: Die Entscheidung am .

Sie ist eine Grenzpendlerin: Die Doktorandin Hannah fährt regelmäßig mit dem Zug zwischen Deutschland und Österreich hin und her. Sie arbeitet und promoviert seit ein paar Jahren in der österreichischen Hauptstadt Wien, hat aber viele Freunde und Freundinnen in München und Berlin. Meistens ist Hannah mit dem Zug unterwegs – während dieser Fahrten fallen ihr die Grenzkontrollen auf, die ihrem Eindruck nach in den letzten zwei Jahren immer öfter vorkommen. Diese Kontrollen führen auf der Strecke Wien - München entweder zu einem außerplanmäßigen Halt in Freilassing oder finden ab dort im fahrenden Zug statt.

Regelmäßige Grenzkontrollen im Zug zwischen Österreich und Bayern

Hannah stellt sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit solcher Pass-Kontrollen. "Ich bin dann auf ein EuGH-Urteil vom 26. April 2022 gestoßen, das besagt, dass diese immer wieder fortgesetzten Kontrollen eigentlich EU-rechtswidrig sind, wenn es keine neue Begründung dafür gibt." Wenige Tage später wird sie wieder im Zug von einem Bundespolizisten nach ihrem Ausweis gefragt. Hannah spricht ihn auf das Urteil an. "Woraufhin der Bundespolizist mich dann trotzdem aufgefordert hat, meinen Ausweis zu zeigen und meinte, da müsse ich mich an Frau Faeser, also an das Innenministerium wenden und dort nachfragen."

Schengen-Abkommen: die Vision der europäischen Reisefreiheit

Die Reisefreiheit gilt als einer der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Integration. Das Schengen-Abkommen, das diese Reisefreiheit ermöglicht hat, wurde schon Jahre vor der Gründung der EU unterschrieben – 1985 im luxemburgischen Grenzort Schengen. Die Idee zu diesem Abkommen geht auf den damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand zurück.

Die Benelux-Länder, also Belgien, Niederlande und Luxemburg, schlossen sich der Vision von Kohl und Mitterand an. Nach vielen Verhandlungen und Verzögerungen – damalige Bedenken betrafen vor allem die innere Sicherheit und den Kampf gegen Kriminalität – fielen zehn Jahre nach der Erstunterzeichnung von Schengen im Jahr 1995 endgültig die Grenzkontrollen im Schengenraum, der damals nur wenige Staaten umfasste. Mittlerweile gehören 29 Staaten zum Schengenraum, darunter auch vier Nicht-EU-Staaten.

Wieder Grenzkontrollen in Europa unter Auflagen

Das 2006 eingeführte Regelwerk namens Schengener Grenzkodex besagt, dass Ausnahmen von der Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen durchaus vorgesehen sind – jedoch nur "im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung ihrer öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit". Wiedereingeführte Kontrollen dürfen nicht länger als sechs Monate dauern, könnten nur bei "außergewöhnlichen Umständen" auf maximal zwei Jahre verlängert werden. Die Kontrollen müssen bei der EU-Kommission angemeldet, aber nicht genehmigt werden.

Dennoch haben insbesondere seit 2015 mehrere europäische Staaten ihre Grenzen auch länger als sechs Monate kontrolliert – zum Beispiel mit der (erneuerten) Begründung von "hohem Migrationsdruck" oder "Schmuggleraktivitäten". Nach Ablauf der sechs Monate wurden die Kontrollen bei der EU-Kommission teils neu angemeldet. Aktuell kontrollieren acht von 29 Schengen-Staaten ihre Grenzen.

Kontrollen rechtswidrig? Pendlerin reicht Klage ein

Auch an der bayerisch-österreichischen Grenze wird seit 2015 kontrolliert – Kontrollen, wie sie Pendlerin Hannah erlebt. Sie hat mittlerweile Klage gegen die andauernden Kontrollen eingereicht – weil sie gegen die Vereinbarungen des Schengener Grenzkodex verstoßen würden. Vertreten wird sie von der Münchener Fachanwältin für Flucht und Migration, Gisela Seidler.

Seidler sieht in andauernden Grenzkontrollen – auch über mögliche Zugverspätungen hinaus - eine massive Einschränkung für ihre Mandantin: "Dass man weiß, es passiert etwas Rechtswidriges – und man muss es trotzdem über sich ergehen lassen". Das EugH-Urteil, auf das Seidler und ihre Mandantin Hannah sich berufen, hat ebenfalls ein Grenzpendler erstritten, der an der Grenze Österreich und Slowenien nach seinem Pass gefragt wurde. Der EugH urteilte in seinem Fall im Jahr 2022, dass Grenzkontrollen nicht länger als sechs Monate verlängert werden dürfen, solange es keine neue Begründung dafür gibt.

Grenzkontrollen ein Pluspunkt für die Sicherheit?

Auch wenn nach 2015 zwischenzeitlich weniger Menschen nach Deutschland flohen oder zuwanderten, hält der bayerische Innenminister Joachim Herrmann die Kontrollen heute noch für notwendig. Er argumentiert im neuen BR24-Podcast "Die Entscheidung" mit einer Reihe von islamistischen Anschlägen in Deutschland seit 2015 – und mit der Einreise von "gewaltverdächtigen Menschen".

Die bayerische Grenzpolizei, die eigentlich im Kontext des Schengen Abkommens abgeschafft und 2018 wieder eingeführt wurde, würde zusätzlich zu den Grenzkontrollen durch die Bundespolizei immer wieder Menschen an der Grenze festnehmen, die zur Fahndung ausgeschrieben wurden. "Grenzkontrollen bewirken keine Wunder, aber sie sind doch ein Pluspunkt für die Sicherheit in unserem Land", so Herrmann im Podcast "Die Entscheidung".

Innenminister Herrmann sieht Bedrohungslagen

Angesprochen darauf, dass es Urteile gibt, die Kontrollen über sechs Monate hinaus als rechtswidrig einstufen, sagt Innenminister Herrmann, solche Entscheidungen seien "zum Teil auch Entscheidungen, die die Gesamtproblematik Europas nicht richtig im Blick haben".

Als Regelwerke wie der Schengener Grenzkodex 2006 festgelegt wurden, habe "niemand daran gedacht, dass einmal die Lage insgesamt in Europa, hinsichtlich der Flüchtlinge wie auch hinsichtlich terroristischer Gefahren, so dramatisch sein könnte, wie sie seit einer Weile wieder ist". Joachim Herrmann hält das Schengen-Abkommen nach wie vor für eine "grandiose Errungenschaft" - rechnet aber auch mit Grenzkontrollen an deutschen Grenzen bis zum Ende des Jahrzehnts.

Kontrollen auch an Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte nach langem Zögern letzten Herbst vorübergehende Grenzkontrollen an den Grenzen zur Schweiz, zu Tschechien und Polen angekündigt. Die Gründe, schreibt das Bundesinnenministerium auf Anfrage, seien "irreguläres Migrationsgeschehen", also unerlaubte Einreisen, sowie überlastete Kommunen und der Kampf gegen Schlepper.

Die Kontrollen wurden kürzlich verlängert: Anlass in diesem Sommer sind auch eine Sorge vor Terroranschlägen und erhöhte Sicherheitsvorkehrungen zur anstehenden Fußball-EM in Deutschland. Dem Vorwurf, dass Kontrollen, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben, wie in Bayern, rechtswidrig sein könnten, entgegnet das Bundesinnenministerium: "Den Vorgaben des genannten EuGH-Urteils ist bei jeder Entscheidung im Rahmen der Begründung einer Neu-Anordnung Rechnung zu tragen."

Höhlen die Kontrollen Vertrauen in EU aus?

Dass an der bayerischen Grenze weit länger als sechs Monate kontrolliert wird, birgt laut Anwältin Seidler die Gefahr, dass das Vertrauen in die Europäische Union und in die Gewaltenteilung ausgehöhlt werde. Auch einer der Erstunterzeichner des Schengener Abkommens, Robert Goebbels, der in den 1980er Jahren luxemburgischer Staatssekretär war, sieht die Entwicklung hin zu mehr Binnengrenzkontrollen kritisch.

Goebbels verweist auf Großbritannien, das nie Mitglied im Schengenraum war und trotzdem mit Kriminalität, Terroranschlägen oder Migration konfrontiert war und ist. "Es sind nicht die Grenzen, die schützen, es ist eine andere Politik." Er nennt etwa die länderübergreifende Polizeiarbeit, die mit Abschluss des Schengener Abkommens großflächig ausgebaut wurde – so wurde eine gemeinsame Datenbank, das "Schengener Informationssystem", geschaffen.

EU macht Weg frei für Verlängerung von Kontrollen

Zu Beginn dieses Jahres gab es eine Reform des Schengener Grenzkodex – EU-Rat und Parlament haben beschlossen, dass Grenzkontrollen nun bis maximal drei Jahre verlängert werden können. Sie sollen aber weiterhin "letztes Mittel" bleiben.

Die Klage der Pendlerin Hannah und ihrer Anwältin Gisela Seidler liegt momentan beim Verwaltungsgericht in München. Beide wären bereit, bis zum Europäischen Gerichtshof zu gehen. Gisela Seidler ist optimistisch, dass die Binnengrenzkontrollen in Europa irgendwann wieder verschwinden.

Schengen – 1985 fing alles sehr klein an, nur wenige Politiker taten sich zusammen, ohne zu wissen, wie groß der Schengenraum einmal werden würde. Wie die ersten Verhandlungen um das Abkommen abliefen und was die Idee der europäischen Reisefreiheit an der EU-Außengrenzen verändert hat – all das hören Sie im neuen BR24-Podcast "Die Entscheidung". Host Jasmin Brock und Reporter Stephan Ozsváth nehmen Sie mit in das kleine Grenzdorf Schengen, auf eine Grenzstreife bei Frankfurt an der Oder und zur EU-Außengrenze in die spanische Exklave Melilla.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!