Am Tag danach versuchen viele Grünen-Politiker, das Geschehen herunterzuspielen. Michael Kellner zum Beispiel. Er ist ein enger Vertrauter von Vizekanzler Robert Habeck. Und einer seiner Staatssekretäre im Bundeswirtschaftsministerium. Dass das Wachstumschancengesetz von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erst Endes des Monates auf den Kabinettstisch kommt, findet Kellner "nicht dramatisch".
Inhaltlich haben die Grünen kein größeres Problem mit Lindners Wachstumschancengesetz. Aus Sicht einiger Grünen-Politiker war aber ein machtpolitisches Stoppschild überfällig – ein Stoppschild nicht nur an die Koalitionspartner, sondern auch an den eigenen Wirtschaftsminister.
- Zum Artikel: Veto in Berlin: "Erpressung" oder nur ein weiterer Ampel-Streit?
Linker Parteiflügel positioniert sich gegen Realos
Robert Habeck ist einigen im linken Parteiflügel der Grünen schon länger zu kompromissbereit unterwegs. Zu angepasst im Regierungsalltag, zu stromlinienförmig – auch wenn das niemand in ein Mikrofon sagen möchte. Hinter vorgehaltener Hand wirft ein prominenter Grünen-Politiker dem Lager um Habeck vor, alles zu tun, nur um regieren zu können.
Der linke Parteiflügel war erst vor wenigen Wochen auf den Barrikaden, weil Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock und andere restriktivere Asylregeln in der EU mittragen. Für Parteilinke ist das ein Verrat an den Grundwerten. Für sie war es nach Kompromissen in der Klimapolitik oder bei Rüstungsexporten an der Zeit, auch mal Nein zu sagen. So wie Familienministerin Lisa Paus jetzt. Ihr Nein im Kabinett ist auch ein Nein des linken Flügels an den Realpolitiker Habeck.
Paus übergeht mit ihrem Nein Habeck
Die Koalitionspartner SPD und FDP lästern nach Koalitionsrunden gerne darüber, dass die Grünen oft nicht mit einer Stimme sprächen. Tatsächlich gibt es immer wieder Abstimmungsrunden. Robert Habeck koordiniert als Vizekanzler die Arbeit der Grünen in der Regierung. Und der hielt das Wachstumschancengesetz für entscheidungsreif. Üblicherweise kommen nur Gesetzentwürfe auf die Tagesordnung, denen vorab alle Ministerien zugestimmt haben.
Habeck und seine Leute scheinen dabei die Geduld und Kompromissbereitschaft einiger Grüner überschätzt zu haben. Wirtschaftsstaatssekretär Kellner sagt dazu nur, dass er sich den Beschluss "gemeinsamer und früher" hätte vorstellen können. Aber dazu habe halt "der Willen von allen Beteiligten gefehlt". Alle Beteiligten – Paus also inklusive.
Die Familienministerin dürfte ihr Veto nicht im Alleingang eingelegt haben. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios hat sie sich in den vergangenen Tagen intensiv mit führenden Fraktionsmitgliedern ausgetauscht. Ihre Sommerreise durch Hessen und Baden-Württemberg hatte sie schon davor verkürzt, um rechtzeitig in Berlin zu sein.
Grüne loben Veto der Familienministerin
Dass Habeck im Urlaub ist und Baerbock Anfang der Woche wegen einer Flugzeugpanne in Abu Dhabi festsaß, wirken als Erklärung für das überraschende Nein wenig überzeugend. Für ein kalkuliertes Vorgehen spricht auch, dass Fraktions- und Parteiführung bisher öffentlich schweigen.
Paus' Nein kommt in der Partei jedenfalls gut an. Der Familienministerin wird intern attestiert, mutig gewesen zu sein. Mutig auch gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz. Der wollte schließlich geschlossener aus der Sommerpause kommen.
Die Grünen erwarten von dem SPD-Politiker, dass er sich stärker hinter die Kindergrundsicherung stellt und das auch gegenüber Finanzminister Lindner zeigt. Grünen-Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler zum Beispiel sagt, dass auch Lindner und Scholz gefragt seien, die vereinbarte Kindergrundsicherung umzusetzen.
Die ist für Familienministerin Paus ein Herzensthema. Sie hat die Zusammenlegung verschiedener Familienleistungen schon als Abgeordnete vorangetrieben. Für die Grünen ist es aber noch mehr. Das zentrale sozialpolitische Projekt der Ampel soll dokumentieren, dass die Grünen mehr sind als eine Nischenpartei für Klima und Umwelt.
Grüne stellen Machtfrage
Mit Paus‘ Nein pokern die Grünen. Lindners Wachstumschancengesetz kommt früher oder später. Doch der Plan von Bundeskanzler Scholz, die Ampel als Koalition der Wirtschaft in unruhigen Zeiten zu positionieren, ist erstmal dahin.
Ein Schaden für die Ampel? Der Grünen-Finanzpolitiker Sascha Müller aus Nürnberg verneint. Das Kabinett habe vergangenen Mittwoch 26 Vorhaben beschlossen. Nur ein Gesetz sei liegen geblieben, so der Sprecher der Grünen-Landesgruppe im Bundestag. Er sei sich sicher, bis zur Kabinettsklausur eine Einigung zu finden.
Im Ampel-internen Machtspiel haben die Grünen einen Punkt gemacht. Doch bei den Wählerinnen und Wählern können sie davon nicht profitieren. Im neuen ARD-Deutschlandtrend geht es für die Grünen einen Punkt herunter auf 14 Prozent.
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