Er gilt als trockener Bürokrat, als "Ghandi der Türkei" und möchte für einen demokratischen Wandel in dem zunehmend autokratisch geführten Land sorgen. Doch obwohl Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) in den Umfragen vor der Präsidentschaftswahl vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) lag, schaffte es der Oppositionskandidat in der ersten Runde nicht über die 50 Prozent-Hürde. Der amtierende Präsident aber auch nicht. Beide Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert - eine Stichwahl gab es noch nie. Am 28. Mai geht es für beide Seiten um alles oder nichts.
Nationalistisch aufgeladener Wahlkampf
Doch warum blieb Kılıçdaroğlu, der von einem Sechserbündnis gestützt ist, so hinter den Erwartungen zurück? "Ein zentraler Grund für die Stimmenabnahme von Kılıçdaroğlu lag darin, dass die AKP und MHP als Bündnis einen nationalistisch aufgeladenen Wahlkampf geführt haben, der zweifelsfrei die extrem nationalistischen Parteien gestärkt hat", sagte der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay vom Institut für Radikalisierungsforschung in Essen im Gespräch mit BR24. Dies habe sich zum Nachteil von sozialdemokratischen, linken und prokurdischen Parteien ausgewirkt. Zudem hätten "nationalistische und islamische Narrative" größtenteils soziale Probleme wie die Wirtschaftskrise, die hohe Arbeitslosigkeit und das schlechte Krisenmanagement nach der Erdbebenkatastrophe mit mehr als 50.800 Toten alleine in der Türkei überschattet.
Erfolgreich in den Metropolen, Verluste an der Schwarzmeer-Küste
In Metropolen wie Istanbul, Ankara, Izmir und Antalya ging Kılıçdaroğlu als Gewinner hervor. Auch in wichtigen kurdischen Städten im Südosten des Landes lag er vor Erdoğan, betont Bozay. "Man könnte sagen, dass einerseits die moderne Türkei mit Blick auf die Metropolen und die nicht-entwickelte, unterdrückte Türkei mit Blick auf die kurdischen Gebiete zu den Wählern von Kılıçdaroğlu gehören." Der 74-Jährige gehört selbst der alevitischen Minderheit an.
Verloren hat Kılıçdaroğlu dagegen in den anatolischen Hochburgen und im Schwarzmeergebiet - also Regionen mit einer größtenteils konservativ-religiösen Gesellschaft. Auch Erdoğans Familie stammt aus der Schwarzmeerstadt Rize. Erdoğan selbst wuchs aber in Istanbul auf. Auch in Deutschland ist die Zustimmung für Erdoğan tradionell größer als in der Türkei - hier stimmten im Bundesdurchschnitt 65 Prozent für den amtierenden Präsidenten.
"Ich werde alle Flüchtlinge nach Hause schicken"
Kılıçdaroğlu kam in der ersten Runde auf 44,9 Prozent, Erdogan auf 49,5 Prozent - im Kampf um die nötigen Stimmen verschärfte der Oppositionspolitiker nun den Ton. "Ich werde alle Flüchtlinge nach Hause schicken, sobald ich an die Macht komme", sagte Kılıçdaroğlu am Donnerstag. In den vergangenen Monaten hatte der Politiker noch von einer Rückführung der Geflüchteten "binnen zwei Jahren" gesprochen, wenn er die Wahl gewinnt. Er wollte sich um Sicherheitsgarantien bemühen und helfen, in Syrien Brücken und Schulen wieder aufzubauen - auch wenn unklar war, wie dies gelingen sollte.
Dem Staatschef Erdoğan warf Kılıçdaroğlu zudem vor, "freiwillig zehn Millionen Flüchtlinge ins Land geholt" und die Staatsbürgerschaft verschenkt zu haben. Auf welche Daten er sich dabei stützte, war nicht klar. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben 3,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Der Großteil von ihnen stammt aus Syrien. Bereits vor dem ersten Wahlgang hatte Kılıçdaroğlu angekündigt, dass er das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln wolle - nicht nur deshalb blicken europäische Länder mit Spannung auf die Wahl in der Türkei.
Wenn die Regierung an der Macht bleibe, werde es "weitere zehn Millionen Flüchtlinge geben (...)", wetterte Kılıçdaroğlu in seiner Ansprache. "Es wird Plünderungen geben. Die Mafia und Drogenhändler werden die Städte kontrollieren. Die Zahl der Frauenmorde wird steigen", warnte er und schürte damit Ängste. Auch auf Twitter veröffentlichte Kılıçdaroğlu ein Video. "Fremdenhass schüren: Ein Versuch aus dem Becken der Nationalisten zu fischen. Ist übrigens nicht neu innerhalb der CHP und ihren Bündnispartnern - finden dort auch nicht alle gut. Aber anscheinend heiligt mittlerweile der Zweck die Mittel in diesem Wahlkampf", schrieb ARD-Korrespondentin Katharina Willinger auf Twitter.
Politikwissenschaft Burak Çopur meinte auf Twitter: "Hier buhlt Erdoğans Herausforderer Kılıçdaroğlu um die Stimmen der Rechtsextremisten und hetzt wie Gauland über die Flüchtlinge."
Buhlen um Stimmen aus dem nationalistischen Lager
Denn auf dem Markt sind vor allem die Stimmen aus dem nationalistischen Lager. Der drittplatzierte Rechtsaußen-Kandidat Sinan Oğan bekam in der ersten Runde 5,2 Prozent. Eine Wahlempfehlung sprach er bisher nicht aus, Beobachter schätzen aber, dass Oğans Wähler eher für Erdoğan stimmen werden.
Außerdem bemüht sich Kılıçdaroğlu verstärkt um die Stimmen der rund fünf Millionen Jungwähler, die in ihrem Leben nur Erdoğan an der Macht erlebt haben. Man habe nur wenige Tage, "um aus dem Tunnel (...) herauszukommen", schrieb der 74-Jährige auf Twitter. "Ihr habt nur eine Jugend", fügte er hinzu.
In Whatsapp-Gruppen und in sozialen Medien sprechen sich junge Menschen, die auf einen Neuanfang hoffen, gegenseitig Mut zu: "Auf, auf ... für unsere Kinder, unsere Jugend, unsere Frauen..." heißt es da. Auch eine junge Türkin, die erst wenigen Jahren von Izmir nach München zum Arbeiten gekommen ist, hofft auf einen Wechsel - gerade für junge Menschen. "Wir sind nie hoffnungslos, wir kämpfen weiter mit aller Kraft und Solidarität." Sollte Erdoğan gewinnen, glaubt sie, dass viele weitere junge, gut ausgebildete Menschen das Land verlassen werden. Auch der in Berlin lebende Exil-Journalist Can Dündar äußerte die Sorge, dass ein Sieg Erdoğans in der zweiten Runde den Braindrain verschärfen könnte. "Es wird einen Exodus brillanter Menschen geben", sagte Dündar der dpa.
Größere Chancengleichheit angemahnt
Der Koordinator der Wahlbeobachtermissionen von OSZE und Europarat mahnte kurz vor der Stichwahl größere Chancengleichheit an. Es dürfe nicht der Fehler wiederholt werden, dass die Regierungsseite eindeutig in den Medien bevorzugt werde, sagte Michael Link (FDP) vor wenigen Tagen dem "Tagesspiegel". Doch dass sich die Spielregeln wenige Tage vor der Stichwahl verändern, der Opposition zum Beispiel mehr Sendezeit im Fernsehen eingeräumt wird, erscheint wenig wahrscheinlich.
Für die Opposition wird es nicht leicht werden. Erdoğan kann weiter staatliche Mittel und Ressourcen für seinen Wahlkampf nutzen, kann weiter auf einen Großteil der Medien setzen, die unter staatlicher Kontrolle stehen. Deshalb geht Erdoğan Beobachtern zufolge als Favorit ins Rennen und hat gute Chancen, die Türkei weitere fünf Jahre zu regieren.
Mit Informationen von dpa, Reuters, AFP
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