Er gilt als trockener Bürokrat, als "Ghandi der Türkei" und möchte für einen demokratischen Wandel in dem zunehmend autokratisch geführten Land sorgen. Doch obwohl Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) in den Umfragen vor der Präsidentschaftswahl vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) lag, schaffte es der Oppositionskandidat nicht über die 50 Prozent-Hürde. Der amtierende Präsident aber auch nicht. Beide Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert - eine Stichwahl gab es noch nie. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.
Am Montagnachmittag machte die Wahlbehörde offiziell, was sich schon angedeutet hatte: Eine Stichwahl ist notwendig. Der Vorsitzende der Wahlkommission, Ahmet Yener, teilte mit, Amtsinhaber Erdoğan habe die Mehrheit der Stimmen knapp verpasst. Erdogan kam nach Angaben von Yener auf 49,51 Prozent der Stimmen, Kılıçdaroğlu erhielt 44,88 Prozent. Auf dem weit abgeschlagen dritten Platz landete Sinan Oğan (5,17 Prozent) von der ultranationalistischen Ata-Allianz.
Deutsch-Türken stimmen überwiegend für Erdoğan
Bei den wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Deutschland zeichnet sich bei der Präsidentschaftswahl erneut eine deutliche Mehrheit für Recep Tayyip Erdogan ab. Auf den Amtsinhaber entfielen beim Stand von knapp 98 Prozent der ausgezählten Wahlurnen aus Deutschland knapp zwei Drittel der Stimmen, wie aus Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Montag hervorging. Offizielle Zahlen der Wahlbehörde zum Ergebnis in Deutschland liegen aber noch nicht vor.
Kılıçdaroğlu setzt auf Willen zur Veränderung
Kılıçdaroğlu hofft nun auf eine zweite Chance in der Stichwahl, die am 28. Mai stattfinden wird. "Wir werden die zweite Runde unbedingt gewinnen", sagte der 74-Jährige, der von einem Sechserbündnis unterstützt wird. "Der Wille in der Gesellschaft zur Veränderung ist höher als 50 Prozent."
"Erdogan nutzt alle staatlichen Mittel"
Es ist unklar, wie gut seine Chancen stehen. Vermutlich wird es davon abhängen, ob der drittplatzierte Sinan Oğan seine Anhänger aufrufen wird, für Kılıçdaroğlu oder für Erdoğan zu stimmen. "Es wird zwar eine Stichwahl geben, aber Erdoğan geht als Favorit in diese Stichwahl", meint der Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Ali Ertan Toprak, gegenüber BR24.
Türken und Türkinnen in Bayern sind unentschieden, die Enttäuschung ist groß: "Die zweite Runde wird für Kılıçdaroğlu sehr schwierig, weil es in der Türkei keine fairen Wahlen gibt", sagt Gülbey Kılıç, CHP-Vorsitzender in München. "Erdoğan nutzt alle staatlichen Mittel. Die meisten Beamten arbeiten für Erdoğan. Die staatlichen Organe, der Oberste Wahlausschuss und die Agentur Anadolu, arbeiten für Erdoğan. Kurz gesagt, Kılıçdaroğlu wird gegen sie antreten."
"Erfahrungsgemäß ist die Wahlbeteiligung bei Stichwahlen geringer", meint Dilek Bilenler, zweite Vorsitzende der Alevitischen Gemeinde München. "Ich denke, dass Erdoğan diesen Umstand für sich nutzen wollen wird. Denn in vielen Wahllokalen wurde der Wahlablauf behindert. Bis zur Stichwahl wird diese Drangsalierung mit Sicherheit fortbestehen."
An wen wird Oğan seine Stimmen "verkaufen"?
Auch der Kommunikationswissenschaftler und Aktivist Kerem Schamberger glaubt, dass die Chancen von Kılıçdaroğlu eher schlecht seien, "weil Sinan Oğan seine Stimmen eher an die AKP verkaufen" werde. "Mit verkaufen meine ich: Er will ein Ministeramt haben" - das werde ihn Kılıçdaroğlu aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Parlament nicht anbieten können.
Gleichzeitig verweist Schamberger auf die Kommunalwahlen im Jahr 2019 und zeigt sich deshalb hoffnungsvoll. Damals hatte Ekrem Imamoğlu die Wahl zum Bürgermeister von Istanbul 2019 knapp gegen den Kandidaten der regierenden Partei AKP gewonnen. Die Wahlkommission annullierte das Ergebnis damals auf Antrag der AKP. Die Wahl wurde wiederholt - Imamoğlu gewann erneut.
Auch eine junge Deutsch-Türkin aus Augsburg sagt: "Ich glaube, Kılıçdaroğlus Chancen sind eher schlecht, die 5,3 Prozent von Oğan gehen wahrscheinlich an Erdoğan." Mustafa aus München ist dagegen optimistischer: "Ich hätte nicht gedacht, dass Kılıçdaroğlu soweit kommt, ich bin sehr positiv überrascht. Erdoğans Stuhl wackelt mächtig." Wählerinnen und Wähler mit türkischem Pass in Deutschland und anderen Ländern würden für die Stichwahl bereits zwischen dem 20. und 24. Mai ihre Stimme abgeben können.
Opposition eint vor allem ein gemeinsames Ziel
Doch auch wenn der sanft wirkende Ex-Bürokrat die Stichwahl für sich entscheiden sollte, stünde er vor schwierigen Aufgaben. Zwar hat er es geschafft, die zersplitterte türkische Opposition zu einen - doch die Einigung besteht vor allem darin, die rund 20 Jahre andauernde Ära Erdogan und das "Ein-Mann-Regime" zu beenden. Außerdem stünden riesige Aufgaben an: Die Wirtschaft liegt am Boden. Die Inflation ist hoch. Nach dem verheerenden Erdbeben in zehn Provinzen steht ein riesiger Wiederaufbau an. Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten.
Die Allianz hat vor der Wahl bereits versprochen, Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger stärken, und politische Gefangene wie den Kultur-Mäzen Osman Kavala und den früheren Chef der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis entlassen zu wollen.
Das 240 Seiten starke Programm des Bündnisses sieht zudem vor, das 2018 eingeführte Präsidialsystem abzuschaffen und wieder eine strikte Gewaltenteilung einzuführen. Die Opposition möchte zu einem parlamentarischen System zurückkehren, in dem die Abgeordneten den Regierungschef wählen. Die Amtszeit des Präsidenten soll auf einmalig sieben Jahre beschränkt werden. Für eine solche Verfassungsänderung ist eine Dreifünftelmehrheit im Parlament nötig.
Bei der parallel abgehaltenen Parlamentswahl zeichnete sich eine Mehrheit für Erdogans Partei und ihre Verbündeten ab. Nach vorläufigen Ergebnissen kam Erdogans islamisch-konservative AKP auf 321 Sitze, die Opposition auf 213 und ein prokurdisches Bündnis auf 66. Das Parlament mit seinen 600 Sitzen hat seit der Verfassungsreform von 2017 nur noch eingeschränkte Macht.
OSZE-Wahlbeobachter kritisieren Wahlablauf in der Türkei
Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben nach den Wahlen die Wahlbehörde YSK kritisiert. Sie sei undurchsichtig vorgegangen, erklärte eine OSZE-Delegation am Montag. Zudem hätten Präsident Recep Tayyip Erdogan und die herrschenden Parteien des Landes einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber den Oppositionsparteien genossen. "Ich bedauere festzustellen, dass die Arbeit der Wahlbehörde intransparent war, ebenso wie eine überwältigende Voreingenommenheit der öffentlichen Medien und die Einschränkungen der Meinungsfreiheit", sagte Jan Petersen, Leiter des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR).
Was passiert mit den syrischen Flüchtlingen?
Auch international schauen Beobachter mit Spannung auf die Wahl - wegen ihrer Bedeutung für Konflikte in der Region wie dem Syrien-Krieg und für das Verhältnis zur EU und Deutschland. Kılıçdaroğlu will das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln. In Kılıçdaroğlus Außenpolitik würde die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Syrien Priorität haben. Diese Annäherung ist unerlässlich für seine geplante "Rückführung" der 3,7 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei "auf freiwilliger Basis" innerhalb von zwei Jahren.
Er kündigte an, dass die Türkei helfen wolle, Straßen, Brücken, Schulen und Kindergärten in Syrien wiederaufzubauen, "Sicherheit von Leben und Eigentum" zu gewährleisten, damit die Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten - wie genau das gelingen soll, ist völlig unklar.
Mit Informationen von dpa, AP, AFP, reuters
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