Menschen legen Blumen nieder, um den Opfern der Explosion zu gedenken.
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Menschen legen Blumen nieder, um den Opfern der Explosion zu gedenken.

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Istanbul: Explosive Wiederkehr eines Dauerthemas

Istanbul: Explosive Wiederkehr eines Dauerthemas

Es ist das Aus für eine Ruhephase: Am Sonntag explodierte ein Sprengsatz in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal. Die Polizei nahm eine Syrerin mit Verbindungen zu militanten Kurden fest. Spielt Erdogan die "kurdische Karte"? Eine Analyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Sonntagnachmittag: Einkaufsfreuden finden ein jähes Ende in Istanbuls berühmtester Shoppingmeile, der Istiklal. Eine Bombe detoniert und reißt Menschen in Tod und Leid. Fast fühlt man sich zurückversetzt in die Türkei von vor gut fünf Jahren. Damals explodierten im Lande Atatürks immer wieder Sprengsätze. Nachdem Anfang 2016 eine deutsche Touristengruppe Ziel eines tödlichen Terrorangriffs geworden war, blieben Gäste aus Europa für Jahre aus.

Zu der Zeit hatte es grundsätzlich zwei verdächtige Tätergruppen gegeben: Die als Terrororganisation eingestufte kurdische Arbeiterpartei, kurz "PKK", und den selbsternannten "Islamischen Staat", kurz "IS". Auf dessen Konto soll der Anschlag auf die deutschen Touristen gegangen sein. Die PKK griff damals eher und vorwiegend militärische Ziele in der Türkei an. Wie gesagt: Gut fünf Jahre ist all das her.

Inzwischen konnte der IS durch internationales militärisches Vorgehen seiner Machtbasis in Syrien weitgehend beraubt werden. Die PKK befindet sich seit Jahren durch massive Angriffe auf ihre Rückzugstellungen in den Kandil-Bergen Nordsyriens in der Defensive. Entsprechend stellt die jüngste Detonation in Istanbul auch ein Paukenschlag für das ganze Land dar.

Die "kurdische Karte"

Die zügige Festnahme einer Syrerin als Hauptverdächtige wirft nun allerdings Fragen auf. Stehen hier wirklich die entsprechenden Fakten dahinter - was die der Regierung nicht so fernstehenden Ermittlungsbehörden unermüdlich behaupten. Ein von der PKK oder von deren syrischen Ableger YPG zu verantwortender Anschlag würde weiten Teilen der konservativen Kräfte des Landes, deren Kern die islamisch-konservative Regierung von Recep Tayyip Erdogan bildet, in die Karten spielen.

Ein hartes Durchgreifen gegen alles Kurdische in der Türkei träfe wohl auf noch breitere Zustimmung in der Bevölkerung, auch für die Macher dessen. Für Präsident Erdogan, der ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen erheblich unter Druck steht, könnte dies wichtig sein. Er braucht jede Stimme, liegt doch seine Partei nach Umfragen im Moment hinten. Inflation, Millionen syrischer Flüchtlinge im Land und Arbeitslosigkeit ziehen seine Umfragewerte dramatisch nach unten.

Gerade Präsident Erdogan hat in der Vergangenheit die "kurdische Karte" immer wieder aufs Neue gern gespielt. Mal war er der Ober-Hardliner, mal stand er an der Spitze eines Aussöhnungsprozesses, den er höchstpersönlich auch wieder beendete. Zudem: Ein starker politischer Führer in Krisenzeiten - in der Türkei kam und kommt das an! Schließlich: Was hätten PKK oder YPG von einem Terroranschlag in Istanbul? Der türkische Staat greift doch schon jetzt hart durch. Die PKK jedenfalls wies die Verantwortung für den Anschlag mit sechs Toten am Montag von sich.

Erdogan und die Kurden

Grundsätzlich sind Kurden in der Türkei wichtig. Jeder fünfte Türke ist in Wahrheit Kurde. Istanbul ist die größte kurdische Stadt des Landes - auch am Bosporus sind 20 Prozent der Bewohner kurdisch, mithin bis zu vier Millionen. Doch: Die gesamte fast 100-jährige Geschichte der Türkei ist auch die eine des Gegensatzes zur kurdischen Bevölkerung. Wie sagte Staatsgründer Atatürk doch einst: "Die Türkei den Türken!" Es gab Pogrome, blutige Auseinandersetzungen, Terror und Gegenterror.

Vor diesem Hintergrund hat sich eine tief sitzende Angst in Teilen der türkischen Gesellschaft verankert: Man fürchtet jede Form von kurdischen Autonomiebestrebungen - buchstäblich wie der Teufel das Weihwasser. Aus diesem Grunde besteht Erdogan auf einer Pufferzone zwischen den kurdisch kontrollierten Gebieten in Nordsyrien und der Türkei.

Mehrfach setzte er dafür seine Truppen in Marsch und wurde im südlichen Nachbarland zur Besatzungsmacht. Aus diesem Grund auch die radikale Ablehnung Ankaras, der - im Kampf gegen den IS höchst erfolgreich gewesenen Zusammenarbeit - der USA mit kurdischen Milizen in Nordsyrien. Aus diesem Grund schließlich die jüngst erfolgte Zurückweisung einer US-Beileidserklärung für den mutmaßlichen Terroranschlag in Istanbul.

Kommt eine Zeitenwende?

Die hier vorgetragenen Gedankengänge sind natürlich Spekulation, können auch gar nichts anderes sein. Es fehlen schlicht Beweise. Und die werden wohl auch in Zukunft nur schwer zu bekommen sein. Gleichwohl: Man darf nach Sinnzusammenhängen fragen - ohne zu unterstellen. Die Opfer des Anschlags von Istanbul sollte man dabei jedoch nicht aus den Augen verlieren.

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, die festgenommene Hauptverdächtige sei Kurdin. Dazu liegen bisher allerdings keine gesicherten Informationen vor. Nach übereinstimmenden Medienberichten handelt es sich bei der Frau um eine Syrerin. Ob sie auch Kurdin ist, ist bisher nicht bekannt. Wir haben die entsprechende Stelle im Text korrigiert und bitten dies zu entschuldigen.

Nach dem Bombenanschlag hat die Polizei 46 Personen festgenommen.
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Nach dem Bombenanschlag hat die Polizei 46 Personen festgenommen.

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