Vor einer Woche berichtete die "Süddeutsche Zeitung" erstmals über den Verdacht, dass der Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt verfasst haben soll. Er selbst bestreitet dies, sein Bruder hat sich als Autor bekannt. Was Hubert Aiwanger, der auch stellvertretender bayerischer Ministerpräsident ist, nicht mehr bestreitet: Dass er Exemplare des Flugblatts in seiner Schultasche hatte und von der Schule disziplinarisch belangt wurde. Ursprünglich hatte er auch das abgestritten.
Am Donnerstag entschuldigte sich Aiwanger dann nach Tagen des Schweigens erstmals. Er bereue es zutiefst, wenn er durch sein Verhalten "in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet" Gefühle verletzt habe.
Zeitgleich mit der Entschuldigung wies er die erhobenen Vorwürfe zurück und sprach von einer Kampagne gegen ihn. Schon am Mittwochmorgen, als er erstmals seit Tagen wieder einen Post im Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) veröffentlichte, erhob er diesen Vorwurf mit den Worten: "Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los."
Der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands weist diese Anschuldigungen Aiwangers zurück. Im Gespräch mit BR24 Medien unterstreicht Frank Überall, dass "ordentlich recherchiert wurde" und das sei ja auch dokumentiert worden. Dass Aiwanger diese Recherchen nun mit Gegenangriffen verbinde, sei ein durchaus beliebtes Spiel, helfe aber in der Sache nicht weiter.
"Verdachtsberichterstattung" der Süddeutschen Zeitung
Die Berichterstattung der "Süddeutschen Zeitung" basiert auf Gesprächen mit rund "zwei Dutzend" Menschen, die alle zum Schutz der eigenen Person anonym bleiben wollten. Der DJV-Vorsitzende betont, dass die Tatsache, dass Quellen anonymisiert wurden, ja nicht heiße, dass deren Identität der Redaktion nicht bekannt seien.
Grundsätzlich müssen bei einer "Verdachtsberichterstattung" einige Bedingungen erfüllt sein. Der Medienrechtler Tobias Gostomzyk von der Technischen Universität Dortmund erklärt, dass Journalisten "hinreichend Substanz" für den Verdacht bräuchten, diesen "sprachlich kennzeichnen" müssten, den im Verdacht stehenden nicht "vorverurteilen" dürften und ihm vor der Publikation "Gelegenheit zur Stellungnahme" einräumen müssten. Darüber hinaus gilt es, immer eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem "Schutz der Persönlichkeit" und dem "öffentlichen Berichterstattungsinteresse".
Öffentliches Interesse gegeben
An der Berichterstattung zu Hubert Aiwanger wurde mitunter kritisiert, dass der Vorfall schon über drei Jahrzehnte zurückliegt. Worin der DJV-Vorsitzende deswegen kein Problem sieht, da Journalisten gerade bei Personen des öffentlichen Lebens wie Aiwanger lange zurückliegende Ereignisse aufgreifen dürften, selbst wenn sie strafrechtlich gar nicht mehr relevant seien oder es nie gewesen sind. Ausschlaggebend sei, dass sie ein "politisches Diskussionspotential" in sich trügen und das sei in diesem Fall definitiv so.
Recht der Bürger auf Information
Frank Überall findet es unbegreiflich, dass Hubert Aiwanger "als Vize-Ministerpräsident eines großen Bundeslandes noch nicht einmal rudimentäre Kenntnisse über Journalismus und Medien" besitze. Sein Vorwurf der "Schmutzkampagne" sei "kruder Unsinn".
Auch die wiederholt geäußerte Kritik am Zeitpunkt der Veröffentlichung wenige Wochen vor der Landtagswahl sieht der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands als grundlos an. Er habe es in mehr als 25 Jahren nicht erlebt, dass ein Veröffentlichungszeitpunkt aus politischen Gründen bewusst gesteuert worden sei, so Frank Überall im Gespräch mit BR24.
Diese Sicht unterstützt der Medienrechtler und Professor Tobias Gostomzyk mit dem Hinweis, dass die Bürgerinnen und Bürger ein Recht hätten, vor der Wahlentscheidung informiert zu werden.
Süddeutsche Zeitung erklärt Zeitpunkt der Veröffentlichung
Sebastian Beck von der "Süddeutschen Zeitung", der an der Recherche beteiligt war, betont in einem SZ-Podcast vom 28. August, dass die Redaktion sich sehr bewusst darüber gewesen sei, dass das Ganze mitten im Wahlkampf passiere und sich die SZ dem Verdacht aussetze, Politik zu machen. Die Redaktion hätte diskutiert, abgewogen und sich für eine sofortige Publikation entschieden. Andernfalls hätte sich die Zeitung dem Vorwurf ausgesetzt, die Informationen über Aiwanger bewusst bis nach der Wahl zurückzuhalten.
Hohe Hürden für Berichterstattung
Die Hürden für eine Verdachtsberichterstattung sieht Tobias Gostomzyk grundsätzlich als hoch an. Die Rechtsprechung habe hier kein Privileg für Medien ausgestaltet, sondern eher den Schutz der Persönlichkeit in den Vordergrund gestellt.
Dies bestätigt der erfahrene Investigativ-Journalist Daniel Drepper. Die Verdachtsberichterstattung sei eine der schwierigsten Formen des Journalismus. Ein sehr spezielles Handwerk, das meist von Menschen mit jahrelanger Erfahrung angewandt werde, so Daniel Drepper gegenüber BR24 Medien. Er hat mit "Correctiv" das erste gemeinnützige Recherchezentrum Deutschlands mitgegründet und leitet heute die Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Mit der aktuellen Recherche zu Aiwanger war und ist er nicht betraut.
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