Es sind gleich vier Pflegedienste mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, die auf Russisch in der November-Ausgabe eines in Deutschland erscheinenden Magazins Anzeigen geschaltet haben. Sie richten sich gezielt an hier lebende, russischstämmige Menschen. In einer der Anzeigen steht übersetzt:
"Wir helfen Ihnen gerne! Wir sprechen russisch. Unsere Patienten vertrauen uns. Unsere Leistungen sind für Sie kostenlos. Wir begleiten Sie zu den Ärzten, helfen beim Einkaufen, Fütterung, Spaziergänge, Friseurdienste, Pediküre, Maniküre… und viel mehr. Alle Ausgaben werden von der Krankenkasse und dem Sozialamt getragen." Aus der Anzeige eines Pflegedienstes
Pediküre und Friseurdienste auf Kosten der Krankenkasse? Ein zweifelhaftes Angebot, denn solche Leistungen übernehmen die Kassen normalerweise gar nicht. Bei diesen vier Pflegediensten handelt es sich für die Polizeibehörden gewissermaßen um "alte Bekannte". Sie stehen nach ihren Ermittlungen im Verdacht, systematisch zu betrügen. Machen sie also einfach weiter?
Gröhes Versprechen: Bessere Kontrollen
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe wollte den Sumpf betrügerisch arbeitender Pflegedienste, die teilweise auch Verbindungen in das Milieu der organisierten Kriminalität haben, trockenlegen. Im Interview mit dem BR im Mai dieses Jahres sagte Gröhe:
"Wir haben die entscheidenden Schritte, bessere Kontrolle, die Möglichkeit, auch eben Pflegediensten, die Zulassung zu entziehen, vorgenommen. Es geht jetzt darum, dies auch konsequent anzuwenden. Und da wird mit allen Beteiligten zu prüfen sein, ob weiterer Handlungsbedarf besteht." Hermann Gröhe, CDU Bundesgesundheitsminister
Mit dem sogenannten III. Pflegestärkungsgesetz bekamen die Krankenkassen erweiterte Kontrollbefugnisse. So dürfen sie jetzt erstmals die Abrechnungspraxis ambulanter Dienste überprüfen. Mit dem neuen Gesetz reagierte die Bundesregierung auf die Berichte von BR Recherche und der Zeitung "Die Welt" über vertrauliche Analysen von BKA und LKA NRW.
Milliardenschaden für Sozialkassen
Danach richten vor allem russisch-stämmige Pflegedienste in Deutschland jährlich einen Schaden für die Sozialkassen in Höhe von geschätzt einer Milliarde Euro an.
Was ist seitdem erreicht? Mitte November trafen sich rund 120 Experten von Krankenkassen, Staatsanwaltschaften und Strafverfolgungsbehörden in Berlin zum Erfahrungsaustausch. Vertraulich und hinter verschlossenen Türen. Ein Teilnehmer zog in seiner Präsentation ein vernichtendes Fazit:
"Was wurde nicht erreicht? Kein wesentlicher Beitrag in der Bekämpfung von organisierter Kriminalität. Der eigentliche Anlass für die Maßnahmen des Gesetzgebers ist nicht gelöst." Fazit eines Teilnehmers
Zwar decken die Prüfer der Kassen inzwischen deutlich mehr falsche Abrechnungen auf, auch die Zahl der Hinweise steigt, wie aus einer internen Erhebung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) Niedersachsen von Anfang Dezember hervorgeht. Danach war gut ein Drittel von über 700 Prüfungen auffällig.
Nur kleine Fische
Dabei handelt es sich aber eher um kleine Falschabrechnungen bei legal operierenden Diensten. Die großen Fische gingen so nicht ins Netz, klagt ein Vertreter einer großen Krankenkasse, der weder seinen Namen noch seine Funktion in der Presse hören oder lesen will: "Erwischt werden jetzt eigentlich nur noch die Pflegedienste, die sich blöd anstellen."
Hinzu kommt, so Dina Michels, die bei der Krankenkasse KKH mit Sitz in Hannover für den Bereich Bekämpfung Abrechnungsbetrug zuständig ist, dass jene, die absichtlich betrügen würden, ohnehin mit doppelter Buchführung arbeiteten. Gegenüber den MDK-Prüfern würden sie ganz besonders darauf achten, dass bei Prüfungen keine Ungereimtheiten zwischen Abrechnungen, Pflege-Dokumentationen und Leistungsnachweisen vorliegen. Außerdem finden Vor-Ort-Kontrollen in der Regel nach vorheriger Anmeldung statt. Das Fazit von Dina Michels deshalb:
"Die Prüfungen durch den MDK sind weder dafür ausgelegt noch dafür geeignet, organisierte Kriminalität offenzulegen." Dina Michels, Chefermittlerin KKH
Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, sieht die ganze Branche in Misskredit durch einige kriminelle Pflegedienste. Daher fordert er mehr Transparenz und Information:
"Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Datenbank, in die alle Krankenkassen und Ermittlungsbehörden Einblick haben. Wo schwarze Schafe gelistet werden, ähnlich wie in der Finanzindustrie." Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender AOK-Bundesverband
Wer ist zuständig?
Wenn Pflegedienste im Verdacht stünden, zur organisierten Kriminalität zu gehören, dann könne nur polizeiliche Ermittlungsarbeit erfolgreich sein, stellt Peter Pick fest. Er ist Geschäftsführer der Spitzenorganisation der Medizinischen Dienste, MDS, in Essen. Allerdings beurteilen diejenigen, die für die polizeiliche Ermittlungsarbeit zuständig sind, die Lage völlig anders. Bereits im Juni hatte die Innenministerkonferenz (IMK) in einem Schreiben an die Sozialminister der Länder festgestellt:
"Aus Sicht der IMK ist der Schwerpunkt der Bekämpfung dieses Phänomens zuvorderst als Aufgabe der Kostenträger bzw. des Gesetzgebers (Sozialgesetzbuch) anzusehen, zumal die polizeilichen Bekämpfungsmöglichkeiten eher begrenzt sind." IMK-Schreiben an die Arbeits- und Sozialminister der Länder vom 2. Juni 2017
Das Bundesgesundheitsministerium verweist darauf, dass die Ermittler der Krankenkassen und der Polizei gleichermaßen gefordert sind.
"Die Qualitäts- und Abrechnungsprüfung des MDK kann Hinweise auf kriminelle Handlungen geben, kann die Arbeit der staatlichen Ermittlungsbehörden wie Polizei, Landeskriminalämter und Staatsanwaltschaften, deren Aufgabe es ist illegale Machenschaften professioneller Betrüger aufzudecken und konsequent zu verfolgen, aber nicht ersetzen." Aus einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf BR-Anfrage
Prozess in Düsseldorf
Wie aufwändig diese Ermittlungen sind, zeigt ein Prozess, der seit August am Landgericht Düsseldorf läuft. Angeklagt sind neun Pflegedienst-Geschäftsführer und -Mitarbeiter, die über mehrere Jahre lang mit falschen Abrechnungen einen Schaden in Millionenhöhe verursacht haben sollen. Alleine die Kosten für die notwendigen Abhörmaßnahmen beliefen sich auf etwa eine Million Euro. Wie die jüngsten Anzeigen anderer Pflegedienste nahelegen, floriert das kriminelle Geschäft mit der Pflege davon unberührt weiter.