Die Bundespolitiker in Berlin sind noch nicht ganz aus der Sommerpause zurück, und schon geht das Tauziehen um die Kindergrundsicherung weiter. Nach der Blockade des Wachstumschancengesetzes durch Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und einer eisigen Antwort von Finanzminister Christian Lindner (FDP) in einem Zeitungsinterview, stellt die Diakonie Deutschland eine Kurzstudie vor: Dazu, welche Folgekosten Deutschland stemmen muss, wenn die Kinderarmut nicht effektiv bekämpft wird.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie will mit dem Gutachten "zur dringend notwendigen Sachdebatte zurückzukehren". Er nennt es "ökonomisch unklug", wenn Deutschland Kindern keine gerechte Chance auf eine gesunde Entwicklung und eine gesellschaftliche Teilhabe gebe.
Risiko für gesundheitliche Probleme und schlechte Arbeitschancen
Die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag der Diakonie kommt zu dem Schluss, dass Kinderarmut einen hohen Preis für Staat und Gesellschaft hat. Zum einen würden arme Kinder häufiger gesundheitliche Probleme haben, was neben dem persönlichen Leid Kosten im Gesundheitswesen verursacht. Die Studie nennt hier als Beispiel, dass etwa das Risiko für starkes Übergewicht steige. Die Kosten für Adipositas insgesamt liegen bei mehr als 60 Milliarden Euro im Jahr. Von Armut betroffene Kinder haben später als Erwachsene ein höheres Risiko, arbeitsunfähig zu werden.
Außerdem hätten ärmere Kinder oft einen schlechteren Zugang zu Bildungsangeboten, so die DIW-Studie. Das führt zu niedrigeren Schulabschlüssen und weniger Berufsperspektiven – und damit auch weniger Fachkräften für die Wirtschaft. Dem Staat entgeht Einkommensteuer. Zudem muss er für die dann Erwachsenen häufiger Sozialleistungen wie Bürgergeld zahlen.
Kinderarmut verursacht 120 Milliarden Euro Kosten für Staat
Auf wie viel sich das summieren könnte, dazu hat die Studie keine eigene Zahl errechnet, sondern beruft sich auf eine umfassende Studie der OECD, die das für das Jahr 2019 errechnet hat. Sie sieht die Folgekosten von Kinderarmut für Deutschland bei ungefähr 110 bis 120 Milliarden Euro.
In der Diskussion um die Kindergrundsicherung dürften "nicht nur die kurzfristigen Sparzwänge im Bundeshaushalt eine Rolle spielen", sagt Diakonie-Präsident Lilie, sondern auch die mittel- und langfristigen Belastungen für Staat und Steuerzahler, wenn Kinderarmut nicht bekämpft wird. Marcel Fratzscher, Chef des DIW, ergänzt, "Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes haben einen enormen Nutzen davon, wenn Armut reduziert wird."
Finanzminister bezweifelt Sinn von mehr direkten Geldleistungen
Finanzminister Lindner hingegen hält wenig davon, von Armut betroffenen Familien mehr direktes Geld zukommen zu lassen. In einem FAZ-Interview rechnet er vor, dass eine fünfköpfige Familie, die Bürgergeld bezieht, im Moment schätzungsweise 36.000 bis 38.000 Euro im Jahr bekommt. Überproportional viele dieser Familien hätten eine Einwanderungsgeschichte und wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil Qualifikationen fehlten. Statt mehr Geld möchte Lindner zusätzliche Anreize, "die Hilfen des Sozialstaats zu Sprachförderung, Qualifikation und Arbeitsaufnahme anzunehmen".
DIW: Direkte Transferleistungen wirken
Es sei keine Frage von "entweder oder", sondern ein "sowohl als auch", entgegnet DIW-Chef Fratzscher. Das heißt, es sollte Eltern aus seiner Sicht sowohl mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet als auch Kinder direkt mit Geld unterstützt werden. Die Studie untersucht konkrete Szenarien und ihre Wirkung und kommt zu dem Schluss, dass mit einer direkten Transferleistung – im untersuchten Fall 100 Euro pro Kind – der Anteil "armutsbetroffener Haushalte am stärksten reduziert werden könnte". Nämlich bei Alleinerziehenden um 15,5 Prozent.
Diakonie-Präsident Lilie wertet das als starkes Argument für die Kindergrundsicherung. Die Kinder bräuchten Sprachförderung und gute Schulen, wie Lindner vorschlägt, aber um solche Angebote gut nutzen zu können, müssten erst einmal die Grundvoraussetzungen stimmen. Ein Frühstück im Magen, ein Schulranzen mit Schulmaterial. An diesen Dingen fehle es vielen von Armut betroffenen Kindern, erzählt Lilie. Er wünscht sich insgesamt 20 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung.
Damit steht eine weitere Zahl im Raum. Familienministerin Paus forderte ursprünglich zwölf Milliarden Euro. In der von Lindner vorgelegten Finanzplanung für 2025 ist bisher ein "Platzhalter" von zwei Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung enthalten. Das Ringen um die Kindergrundsicherung geht weiter.
Im Video: Forderung nach mehr Geld für Kinder bei Grundsicherung
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