"Wir haben keine Zeit zu verlieren", mahnt der Bundespräsident bei seinem Treffen mit dem Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern: "Jedes Mädchen und jeder Junge hat ein Recht auf ein Leben in Würde und Sicherheit, auf ein Leben ohne Gewalt." Und doch werden in Deutschland jedes Jahr tausende Kinder und Jugendliche Opfer sexuellen Missbrauchs. Die Dunkelziffer liegt Schätzungen zufolge um ein Vielfaches höher: Eine Million junge Menschen sind oder waren sexueller Gewalt ausgesetzt.
Corona hat die Situation verschlimmert
Sonja Howard vom Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) bringt es auf den Punkt: "Haupttatort ist die eigene Familie. Haupttäter sind die eigenen Eltern oder Stiefeltern."
Die Pandemie hat die Lage der Kinder dabei erheblich verschlimmert. Sie habe, sagt der Bundespräsident, uns vor Augen geführt, wie viele Mädchen und Jungen in ihrem eigenen Zuhause Gefährdungen ausgesetzt sind. Die Digitalisierung, in der Pandemie gerne als Wundermittel beschworen, zeigt hier ihre hässliche Fratze. Frank-Walter Steinmeier weist darauf hin, dass im Corona-Jahr Verbreitung und Konsum von Missbrauchsdarstellungen noch einmal stark zugenommen hätten: "Wir müssen uns bewusst machen, dass Opfer schrecklich leiden, wenn ihre Bilder im Netz zirkulieren und dort oft für immer bleiben."
Steinmeier fordert Haltung des Hinschauens
Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt sei eine Aufgabe, die alle angeht, erklärt der Bundespräsident: "Wir brauchen in unserem Land eine Haltung des Hinschauens." Dazu gehört auch, diejenigen nicht zu vergessen oder zum Schweigen zu bringen, die in Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erfahren haben. Ihnen vielleicht sogar noch eine Mitschuld an den Verbrechen zu geben, nennt Steinmeier eine "fatale Tendenz zur Schuldumkehr."
Der Bundespräsident fordert mehr Aufmerksamkeit, er will Plattformbetreiber noch mehr in die Pflicht nehmen. Das Kindeswohl müsse immer Vorrang haben vor dem Schutz der Institution. Auch Johannes-Wilhelm Rörig, seit 2011 der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, drängt auf mehr Maßnahmen, vor allem im Netz. So regt er eine Enquete-Kommission an, die eine Strategie zur Bekämpfung der sexuellen Gewalt gegen Kinder im Netz erarbeitet, und die auch Internet-Giganten wie Google oder Facebook einbindet.
Missbrauchsbeauftragter kritisiert Politik
Vor eineinhalb Jahren wurde der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt ins Leben gerufen. Johannes-Wilhelm Rörig würde sich wünschen, dass es einen konsequenteren Schutz der Kinder gibt, appellierte er an die Politik. Die Gewalt könnte durch einen stärkeren politischen Willen verhindert werden. Zwar habe Deutschland bessere Prävention, Intervention, Hilfen zur Forschung und Aufarbeitung schon auf den Weg gebracht, aber nicht bundesweit, nicht flächendeckend und nur selten vernetzt. Für 2022 hat Rörig eine klare Ansage an die dann politisch Verantwortlichen: Sie sollten das Amt des Missbrauchsbeauftragten endlich auf eine gesetzliche Grundlage stellen, inklusive einer umfassenden turnusmäßigen Bericht-Pflicht gegenüber Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Denn wie sagte es der Bundespräsident so schön dringlich: "Wir haben keine Zeit zu verlieren."
"Darüber spricht Bayern": Der neue BR24-Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!