Vielen Briefwählern wird es beim Auspacken der Unterlagen aufgefallen sein. Auch Nutzer des Wahl-O-Mats haben nach Anklicken der Option "Alle Parteien gleichzeitig auswählen" wahrscheinlich festgestellt: Die Auswahl bei der diesjährigen Bundestagswahl ist sehr groß.
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Nie sind mehr Parteien zu einer Wahl in Deutschland angetreten. Insgesamt 47 Parteien können gewählt werden – wenn auch nicht alle in allen Bundesländern. Das Angebot geht jenseits der etablierten, im Bundestag vertretenen Partei von "du", einer urbanen HipHop-Partei, über die "Europäische Partei Liebe" bis hin zu "Die Basis", eine Partei, die sich im Umfeld der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen gebildet hat.
Nur wenige Neulinge im Bundestag
Deutschland hatte über Jahrzehnte ein äußert stabiles Parteiensystem, das sogenannte "Zweieinhalbparteiensystem" mit CDU/CSU, SPD und FDP: Seit 1957 haben es wegen der Fünf-Prozent-Hürde nur drei Parteien neu in den Bundestag geschafft – die Grünen 1983, die PDS (heutige Linke) 1990 und die AfD bei der letzten Wahl.
Und bei dieser Abstimmung? Laut Umfragen wird es wohl kein Neuling ins Parlament schaffen. Die "Sonstigen" kamen im letzten Deutschlandtrend auf insgesamt 8 Prozent – aufgeteilt auf 40 Parteien. "Da jetzt viele Menschen auch schon per Briefwahl gewählt haben und der Wahltermin sehr nah ist, müsste es jetzt eine sehr große Überraschung sein, dass eine der kleineren Parteien in den Bundestag kommt", erklärt Carsten Koschmieder vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Bei den parallel stattfindenden Landtags- und Kommunalwahlen könne das aber anders aussehen.
Klein- und Kleinstparteien wehren sich häufig gegen den Vorwurf, eine Stimme für sie sei verschenkt. Nicht selten werden sie belächelt. "Parteien haben grundsätzlich im politischen System eine Reihe von Aufgaben, und dazu gehören etliche Aufgaben, die nicht nur Parteien erfüllen können, die im Bundestag sind: beispielsweise an der politischen Willensbildung der Bevölkerung teilzunehmen", erklärt Carsten Koschmieder. Gespräche in der Fußgängerzone über Sachthemen seien "aus demokratischer Sicht gut" – egal von welcher Partei der Dialog ausgehe.
"Handwerkszeug der Demokratie"
Auch in Sachen Personal und politischer Bildung spielen diese Parteien eine Rolle. "Kleine Parteien rekrutieren in einem kleineren Umfang politisches Personal und bilden Leute darin aus, wie man eine Rede hält, wie man irgendwie ein Parteitag organisiert und wie man irgendwie ein Programm schreibt", sagt Koschmieder und nennt als Beispiel die Piratenpartei, über die er promoviert hat: "Viele, die in der Piratenpartei Politik oder politische Partizipation gelernt haben, sind jetzt in anderen Parteien und sind da teilweise erfolgreich - sitzen im Abgeordnetenhaus im Bundestag, im Europäischen Parlament und haben sozusagen das Handwerkszeug der Demokratie eben in einer kleinen Partei gelernt."
Kleinstparteien können zudem thematischen Einfluss nehmen. "Diese Parteien fungieren auch als eine Art Seismograf: Welches Thema ist in der Bevölkerung wichtig?", erklärt Koschmieder. Zum einen können sie Themen in die Öffentlichkeit bringen, die bei den großen Parteien (noch) keine Rolle spielen. Die Piratenpartei hat etwa das Thema Digitalisierung auf die nationale Agenda gesetzt.
"Die Wähler solcher Parteien sagen sich: Mir ist es wichtig, dass das Thema auf der Agenda bleibt, dass die Partei medial stärker wahrgenommen wird, dass die großen Parteien im Parlament dieses Thema vielleicht aufgreifen", erklärt Koschmieder.
- Zur Übersicht: Alles zur Bundestagswahl 2021
Korrekturmodus durch Kleinstparteien?
Nicht im Bundestag vertretene Parteien können für Wähler auch als Korrektiv fungieren, wenn sie mit dem Kurs ihrer eigentlichen Wahl nicht mehr zufrieden sind. Als Beispiel nennt Koschmieder die Klimaliste, die beim Thema Klimawandel radikaler ist und deren Zuwachs zeigt, dass für manche Wähler die Grünen nicht mehr klar genug und zu sehr in die Mitte gerückt seien. In der Wirtschaftspolitik hat sich die SPD nach den Schröder-Jahren auch wegen des Erfolgs der Linken, die bei der Wahl davor (2002) als PDS noch unter 5 Prozent lag, wieder ein Stückweit neu orientiert.
Es gibt für viele durchaus Gründe, die Stimme einer Kleinpartei zu geben, wenn man sich mit deren Themen identifizieren kann. Zudem spielt das System der Parteienfinanzierung eine Rolle: Landet eine Partei bei über 0,5 Prozent bei der Bundestagswahl, erhält sie Gelder vom Staat - 85 Cent pro Stimme - und kann damit auch leichter weiterarbeiten. Koschmieder nennt auch den Punkt Wertschätzung: "Es ist eine Art Honorierung der ehrenamtlichen Leute, die das jahrelang ohne Aussicht auf Mandate machen und sich trotzdem einbringen."
Keine Vertretung im Parlament
Genauso offensichtlich sind die Nachteile: Die eigene Stimme ist bei Wahl einer Kleinstpartei im Bundestag nicht repräsentiert, weder in Regierung noch Opposition. Zudem stärkt eine Stimme für eine nicht im Parlament sitzende Partei indirekt jene Parteien, die dort vertreten sind. Ist man einer oder mehrerer der im Bundestag vertretenden Parteien besonders abgeneigt, bringt eine Stimme für deren parlamentarische Konkurrenz unter Umständen mehr.
Dass so viele Kleinstparteien antreten, könnte auch Folge der Schwäche und zurückgehenden Anziehungskraft der Volksparteien, CDU/CSU und SPD, sein. Denn auch wenn höchstwahrscheinlich kein Neuling ins Parlament einziehen wird, könnte es nach der Wahl zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik der Fall sein, dass eine Große Koalition keine Mehrheit im Bundestag hätte.
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