Die EU-Kommission beruft sich bei ihrem jüngst angekündigten Vorhaben auf eine neue Studie. Die zeigt, dass die Wolfspopulationen in ganz Europa in den vergangenen 20 Jahren erheblich zugenommen haben. Demnach gibt es mittlerweile mehr als 20.000 Wölfe in 23 Mitgliedstaaten.
Mit dem Vorschlag, den Schutzstatus für Wölfe herabzusetzen, kommt die EU-Kommission vor allem den Forderungen von Nutztierhaltern und Landwirten nach. Diese verweisen auf immer größere Probleme. Allein in Deutschland ist die Zahl der Wolfsübergriffe auf Nutztiere im vergangenen Jahr auf mehr als 1.000 Fälle gestiegen. Dabei wurden mehr als 4.000 Tiere getötet oder verletzt.
Aiwanger sieht bereits Überpopulation von Wölfen
Bayerns Jagdminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) spricht bereits von einer "Überpopulation" von Wölfen, wenngleich in Bayern die Zahl der Gebiete mit dauerhaft nachgewiesenen Wölfen in den letzten drei Jahren mehr oder weniger gleichgeblieben ist. Bayern hat aktuell neun, Brandenburg aber zum Beispiel 62, Niedersachsen 55. Die Zahl der Wolfsrudel ist sogar von vier (2021) auf drei (2022) zurückgegangen. Dazu kommen noch sogenannte Durchzieher, meist Jungwölfe, die auf der Suche nach Geschlechtspartnern oder einem freien Revier durch Bayern streifen. Deren Zahl lässt sich aber praktisch nicht feststellen.
Bestehende Regeln sind vergleichsweise alt
Die neue Ankündigung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen macht vielen Weidetierhaltern jetzt Hoffnung auf eine schnelle und deutliche Dezimierung des Wolfs in Europa. Die strengen europäischen Schutzbestimmungen machen es im Moment noch schwer, Wölfe zu schießen. Abschuss-Befürworter sagen, die bestehenden Regeln stammten aus einer Zeit, als Wölfe in Europa noch weitgehend ausgerottet waren und sich den Lebensraum erst langsam zurückerobern mussten. Inzwischen gebe es aber wieder ausreichend Wölfe. Das zeige ja auch die jüngste Studie der EU. Auch die stark gestiegene Zahl von Nutztierrissen mache eine Absenkung des Schutzstatus dringend nötig.
EU-Umweltminister müssen zustimmen
Doch der Weg, den die Kommission jetzt eingeschlagen hat, ist noch lang. Zunächst braucht es eine qualifizierte Mehrheit im Rat der europäischen Umweltminister. Das heißt, mindestens 20 der 27 Mitgliedsstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren, müssen zustimmen. Allerdings haben sich vor einigen Monaten schon zwölf Umweltminister der EU dafür ausgesprochen, den Schutzstatus des Wolfs nicht abzusenken – darunter Deutschland und die Slowakei, aber auch Staaten wie Irland oder Zypern, wo es gar keine Wölfe gibt. Eine Mehrheit für eine Kursänderung innerhalb der EU ist also in weiter Ferne.
Zuerst muss die Berner Konvention geändert werden
Eine zusätzliche Hürde ist die "Berner Konvention" von 1979 (Externer Link zur Website des Europarats). Dieses völkerrechtlich bindende Übereinkommen "über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume" haben 50 internationale Staaten unterschrieben, darunter auch die EU. Das heißt: Nur wenn die Berner Konvention im entsprechenden Punkt geändert wird, kann die EU ihre eigene Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) (Externer Link) rechtskonform ändern.
In der FFH-Richtlinie ist der strenge Schutz des Wolfs bisher festgeschrieben. Die EU hat jetzt in einem ersten Schritt die Herabstufung des Schutzstatus für den Wolf beim Ständigen Ausschuss der Berner Konvention beantragt. Der tagt das nächste Mal aber erst im November 2024. Der Ausgang ist offen: Ein gleichlautender Antrag der Schweiz war vor eineinhalb Jahren gescheitert.
Neue Studie: Willkürliche Wolfsabschüsse bringen nichts
Ob eine großzügigere Gesetzgebung bezüglich der Wolfsjagd das Risiko von Nutztierrissen reduziert, stellt eine aktuelle Studie der tschechischen Mendel-Universität in Brünn allerdings infrage. Sie hat analysiert, wie sich rechtliche Erleichterungen für die Wolfsjagd in der Slowakei auf die Anzahl der Weidetierverluste ausgewirkt haben. Den Forschern zufolge zeigte sich, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl an gerissenen Weidetieren und der Anzahl der im Vorjahr geschossenen Wölfen. Die Autoren der Studie bezweifeln daher, dass eine willkürliche Wolfsentnahme ein effektives Mittel gegen Nutztierrisse ist.
Bayerische Staatsregierung: Bund muss Spielräume nutzen
Unabhängig von der EU-Kommission hat die bayerische Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU) kurz vor Weihnachten im Bundesrat erneut gefordert, einfach die Spielräume zu nutzen, die das EU-Recht bereits jetzt einräumt. So hat die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel vom Artikel 16 der FFH-Richtlinie genau den Absatz nicht übernommen, der schon jetzt den Abschuss des Wolfs erleichtern würde. Hier könne und müsse Bundesumweltministerin Steffi Lemke nachbessern, fordert die Bayerische Staatsregierung.
Trotz erleichtertem Abschuss: Nutztierrisse in Frankreich gestiegen
Ein entscheidender Punkt in der Frage, wie weiter mit Wölfen umgegangen werden soll, ist auch der Begriff des "günstigen Erhaltungszustands". In Deutschland ist der laut dem Bundesamt für Naturschutz bisher nicht erreicht. Frankreich und Schweden dagegen haben diesen günstigen Erhaltungszustand für ihre Länder erklärt. Das ermöglicht ihnen schon jetzt, Ausnahmeregelungen der FFH-Richtlinie zu nützen.
Schweden etwa lässt nur etwa 450 Wölfe im Land zu. Jährlich dürfen bis zu 80 Tiere geschossen werden. Ähnlich ist es in Frankreich, dem Land, das die höchsten Risszahlen überhaupt in Europa hat. Dort dürfen rund 20 Prozent der aktuellen Wolfspopulation geschossen werden. 2023 waren das 162 Tiere. Trotzdem ist die Zahl der Nutztierrisse zuletzt aber weiter gestiegen. Der französische Bauernverband berichtet, dass die Wolfsangriffe auf Herden seit Jahresbeginn 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 16 Prozent zugenommen hätten, die Schäden seien sogar um 20 Prozent gestiegen.
Schweizer Tierschützer beklagen Bruch der Berner Konvention
In der Schweiz wurden am 1. Dezember zwölf der insgesamt 32 Wolfsrudel zum Abschuss freigegeben. Und das, obwohl die Zahl der Nutztierrisse im vergangenen Jahr um 20 Prozent zurückgegangen ist. Tierschutzorganisationen haben deshalb Beschwerde beim Europarat eingelegt, denn auch die Schweiz hat die Berner Konvention unterzeichnet. Sie führen die positive Entwicklung bei den Rissen auf besseren Herdenschutz zurück und befürchten, dass dieser vernachlässigt würde, wenn das Abschießen als einfachere und billigere Lösung erscheint.
Naturschützer aus ganz Europa protestieren gegen Pläne der EU
Tierschutzorganisation und Wildbiologen sehen die Pläne der EU zur Regulation der Wolfspopulationen in Europa äußerst kritisch. In einem offenen Brief an die Kommission haben sich mehr als 300 Naturschutzorganisationen aus ganz Europa gegen eine Herabsetzung des Schutzstatus ausgesprochen. Sie befürchten eine Schwächung der gesamten FFH-Richtlinie, wenn "Behauptungen, die nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen" jetzt zu einer Veränderung führen würden.
Die FFH-Richtlinie, so heißt es in dem offenen Brief, sei ein zentrales Instrument für den Schutz von Lebensräumen und Arten in der gesamten EU. Könnte sie nun aufgeschnürt werden, hätte dies weitreichenden Konsequenzen für die ohnehin fragile Balance der europäischen Ökosysteme.
Lemke stellt Artenschutz über Wolfsabschuss
Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Die Grünen) hält die Pläne der EU-Kommission für einen Angriff auf das europäische Artenschutzrecht. "Das Artensterben ist eine globale Krise, die das Netz unseres Lebens sehr real bedroht. Wir müssen unser Handeln an dieser Tatsache ausrichten und die Beschlüsse von Montreal zum Schutz und zur Bewahrung der Natur umsetzen – auf europäischer und nationaler Ebene."
Französische Jäger mit Existenzangst
Neben den Weidetierhaltern nimmt europaweit auch die Jägerschaft Einfluss auf die Diskussion über den weiteren Umgang mit dem Wolf. Im französischen Departement Drôme haben die Jäger jetzt bei der Präfektin darum gebeten, 100 Wölfe abschießen zu dürfen. Begründung: Der Bestand an Rehen, Hirschen, Mufflons und Wildschweinen sei um 40 Prozent gesunken. "Wenn man den Wolf weiterhin überbeschützt und wenn es kein oder viel weniger Wild gibt, wird es weniger Jäger geben", argumentiert der Vize-Chef der örtlichen Jägerschaft.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!