Eine "Zeitenwende" hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Februar angekündigt und ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Rund neun Monate später zeigt sich: Die Bundeswehr leidet noch immer unter einem massiven Mangel von Munition und Ausrüstung.
SPD-Chef Lars Klingbeil machte die Industrie dafür verantwortlich und forderte sie zu einer Ankurbelung der Rüstungsproduktion auf. Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) entgegnete, es seien bislang kaum Bestellungen eingegangen.
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Industrievertreter: "Unternehmen in Vorleistung gegangen"
Wegen der schleppend angelaufenen Vollausrüstung der Bundeswehr wächst die Kritik von Seiten der Hersteller: Die Bundesregierung habe bislang kaum Munition, Waffen und Ausrüstung bestellt, obwohl Unternehmen in Vorleistung gegangen seien, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Hans Christoph Atzpodien, der Nachrichtenagentur dpa. Er wies Warnungen des SPD-Vorsitzenden Klingbeil zurück, der in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" eine Beschaffung im Ausland ins Spiel gebracht hatte - gewissermaßen eine Androhung.
Klingbeil liege "ziemlich falsch", sagte Atzpodien. Unmittelbar nach der Zeitenwende-Regierungserklärung des Kanzlers am 27. Februar habe das Verteidigungsministerium 250 Unternehmen in einer Video-Schalte aufgefordert, alle Möglichkeiten zu mobilisieren, um die Bundeswehr schnellstmöglich "gefechtsbereit" zu machen. Die Unternehmen hätten binnen einer Woche Angebote für notwendige Ersatzteile, für Munition und andere Güter im Wert von etwa 10 Milliarden Euro vorgelegt.
"In den folgenden Wochen und Monaten konnte jedoch kaum etwas bestellt werden, weil im Bund noch das Regime der 'vorläufigen Haushaltsführung' galt", sagte Atzpodien weiter. Großunternehmen wie auch kleine Mittelständler hätten entschieden, "angesichts der Dringlichkeit auf eigenes Risiko in Vorleistung zu gehen". So habe ein deutsches Großunternehmen seine Kapazität nahezu verdoppelt und Fertigungslose im Wert von rund 700 Millionen Euro für Munition und Fahrzeuge angeboten, "ohne dass es bisher zu nennenswerten Abschlüssen gekommen wäre".
Lambrecht wollte Beschaffungswesen modernisieren
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) war mit großer Ansage ins Amt gestartet. "Hubschrauber, die nicht fliegen, Gewehre, die nicht treffen, haben zu oft für Gespött gesorgt", sagte sie und betonte, da sei "ein ganz dickes Brett" zu bohren. Sie wolle das Beschaffungswesen gründlich modernisieren, eine flexiblere Haushaltsführung, ein verändertes Vergaberecht und mehr Effizienz. "Mein Spruch ist immer: Wenn es einfach wäre, würden es andere machen", hatte Lambrecht gesagt.
Nun warf vor allem die Union im Bundestag ihr und Kanzler Olaf Scholz Tatenlosigkeit vor, wo doch das Geld mit 100 Milliarden Sonderverschuldung bereitgestellt wurde.
Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie
Am Montag stand im Kanzleramt ein Treffen "auf Beamtenebene" mit Vertretern der Rüstungsindustrie auf der Tagesordnung, zu dem aber nicht weiter kommuniziert werde, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte.
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Der Munitionsmangel betrifft alle Bereiche der Bundeswehr, wie die Regierung einräumte. Es gebe ihn - pauschal gesagt - "überall" in den deutschen Streitkräften, sagte Regierungssprecher Hebestreit. Zur Frage, "für wie viele Kampftage die Bundeswehr derzeit Munition hat", wollte er auch aus Sicherheitsgründen keine Auskunft geben. Nach Medienberichten könnten die deutschen Streitkräfte nur einige Tage mit den vorhandenen Vorräten durchhalten.
Strack-Zimmermann sieht Fehler bei CDU
Unter anderem Unionsfraktionsvize Johann Wadephul kritisierte Lambrecht: "Ohne ausreichende Munition ist keine Armee der Welt einsatzbereit. Es ist deswegen ein unfassbares Versagen, dass Ministerin Lambrecht bis dato scheinbar nichts unternommen hat, um die Munitionskrise der Bundeswehr zu beenden", sagte er. Nun versuche das Kanzleramt es mit einem Treffen, "an dem aber scheinbar weder der Kanzler noch die Fachministerin teilnehmen".
Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, hielt Wadephul dafür Ignoranz und frühere Versäumnisse in dem seit 2005 von der Union geführten Ministerium vor. "Herr Wadephul sollte es als CDU-Parlamentarier besser wissen. Im Jahre 2015, ein Jahr nach dem Überfall auf den Donbass, hat die Union 296 Millionen Euro für Munition im Haushalt veranschlagt. Heute stehen dafür 1,125 Milliarden Euro bereit." Waffendepots müssten erst wieder aufgebaut werden.
Im Gespräch mit BR24 erklärte Strack-Zimmermann zudem, das angesetzte Budget für Munition sei in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. "2015, ein Jahr nach Annexion der Krim und dem ersten Überfall auf die Ost-Ukraine, hatte die damalige Bundesregierung 295 Millionen Euro angesetzt für Munition. Das ist ein Drama und viel zu wenig. Wir haben jetzt für dieses Haushaltsjahr 1,1 Milliarden angesetzt." Es sei aber nicht nur eine Geldfrage. Auch die Kapazität der Industrie spiele eine Rolle, und es müssten wieder Depots gebaut werden.
Verband: Es fehlt Munition im zweistelligen Milliardenwert
Laut Bundeswehrverband fehlt Munition im Wert von 20 bis 30 Milliarden Euro. Das Problem sei seit Jahren bekannt, und der Termin im Kanzleramt sei eigentlich schon zu spät, sagte der Vorsitzende André Wüstner im Interview mit RTL/ntv. Es sei schade, dass man sich im Kanzleramt darum kümmern müsse. "Eigentlich hätte man schon früher beginnen können", so Wüstner.
Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour sagte, dass im Kanzleramt über Munition gesprochen werde, sei sehr zu begrüßen. "Dass unsere Partner in der Ukraine auch bei Munition Hilfe brauchen, ist mehr als offensichtlich", sagte er. Und auch bei der Bundeswehr müsse sich die Lage bessern, jenseits von Schuldzuweisungen zwischen Industrie und dem Verteidigungsministerium. Nouripour: "Wenn ich das richtig sehe, ist zurzeit bei der Bundeswehr ausreichend Munition da im Ernstfall für zwei Tage. Und das ist natürlich absolut zu wenig. Und das muss sich sehr, sehr schnell ändern."
Mit Informationen von AFP und dpa
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