Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr werden in der Grundausbildung auf den Einsatz vorbereitet
Bildrechte: dpa-Bildfunk/ Stefan Sauer

Soldaten marschieren mit Gepäck. Schwer zu tragen hat auch mancher an den Erlebnissen aus den Einsätzen.

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Traumatisierte Bundeswehr-Soldaten: Wie geht es ihnen heute?

Im August 2021 endete der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Die Jahrestage des Abzugs wecken bei vielen Einsatzveteranen Erinnerungen – zumal mancher traumatisiert heimkehrte. Werden Politik und Bundeswehr ihrer Verantwortung für sie gerecht?

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Drei Jahre sind vergangen, seit deutsche Soldaten komplett aus Afghanistan abgezogen sind. Fast 20 Jahre des deutschen militärischen Engagements in Afghanistan waren damit Geschichte. Während die politische Aufarbeitung läuft, lassen die Erinnerungen an die Einsätze manche Soldatinnen und Soldaten nicht los. Einer von ihnen ist Mike aus Oberfranken, den wir auf seinen eigenen Wunsch hin so nennen. Vier Mal war er in Afghanistan.

Mike ist Oberstabsfeldwebel. Fast zwei Meter groß. Breite Schultern, ergrauter Bart. Eigentlich heißt er anders. Sein Name ist unserer Redaktion bekannt. Für ein persönliches Treffen hat er eine Parkanlage in einer oberfränkischen Stadt ausgewählt.

Als Spezialist in Afghanistan

Er sei ein Mann gewesen, "dessen Puls in Gefahrensituationen stets nach unten ging, um einen zweckmäßigen Entschluss fassen zu können", sagt er über sich selbst. Mike war als Kampfmittelbeseitiger im Einsatz. Als EODler, wie das militärisch heißt. Also dafür da, um Minen, Bomben, Raketen oder improvisierte Sprengsätze zu entschärfen. Höchst riskante Handarbeit. Mit extremer Verantwortung für das Leben von Menschen. Der Mann auf der Parkbank scheint derselbe zu sein wie der, der genau diese Verantwortung viele Jahre lang übernommen hat. Aber er ist wohl doch ein anderer.

Busanschlag 2003

Mike knetet einen türkisgrünen Gummiball, wenn er über ganz konkrete Daten und Erlebnisse spricht. Über den 7. Juni 2003 zum Beispiel. Dann packt er zu. Die Unterarmmuskulatur spannt sich. Der Ball verschwindet in seiner großen Hand.

An diesem Samstag vor 21 Jahren verübte ein Selbstmordattentäter einen Anschlag auf einen Bus der Bundeswehr in Kabul. Das Fahrzeug war ungepanzert, es sollte Soldaten zum Flughafen bringen. Sie waren auf der Heimreise. Vier von ihnen starben, über 30 wurden verletzt. Als er im Feldlager die Detonation gehört habe, habe er sofort gewusst, dass da etwas nicht stimmt, erinnert sich Mike. Die Bilder des Buswracks und jene von anfliegenden Hubschraubern: sie haben sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Genau wie die Gerüche und Geräusche von damals.

EODler: Immer vorn dabei

In seinen Einsätzen war er immer vorne mit dabei, wenn er auch nicht kämpfen musste. Etwa säuberten er und seine Kameraden Straßen von Sprengfallen. Oder sie entschärften Blindgänger in den Dörfern. Erlebnisse und Aufträge wie diese – ob nun in Afghanistan oder im Kosovo – machten ihn viele Jahre stärker, so beschreibt er es. Seinen Beruf empfand er als seine Berufung.

2021 gerät alles ins Rutschen

Nach einem Einsatz im Jahr 2012 zog er sich zurück, sonderte sich ab von seiner Familie, trank, war zunehmend gereizt, litt unter Schlafstörungen. Lange vertraute er niemandem an, dass ihn Bilder und Erinnerungen heimsuchten. Heute sagt er, er habe seinen wahren Zustand verheimlicht. Einerseits, weil er es sich selbst nicht eingestehen wollte. Andererseits, weil er Angst vor Nachteilen hatte – etwa, nicht mehr in seinen Fachverwendungen eingesetzt zu werden. Bis 2021 blieb das so. Mit dem Abzug und der Evakuierungsmission im August vor drei Jahren änderte sich alles für ihn.

"Reale Welt hörte auf, zu existieren"

"Gefühlt zwanzig Jahre Dienstzeit kamen wie eine Riesenwelle über mich", sagt Mike, wenn er an den Sommer 2021 denkt. Er habe sich regelrecht in seinem Arbeitszimmer vergraben und versucht, jede Information über die Lage in Afghanistan zu bekommen. Er war in Gedanken bei den Kameradinnen und Kameraden, die die Evakuierungsmission durchführten: "Die reale Welt hörte auf zu existierten." Er war kraft- und zugleich fassungslos, dass in Afghanistan "alles für die Katz" gewesen sein sollte: die Gefallenen, die Entbehrungen der eigenen Angehörigen, das Leid der Zivilbevölkerung.

Er durchlebte seine eigenen Einsätze fortan ständig aufs Neue. Flashbacks oder "Intrusionen" lauten die Fachbegriffe, häufig ausgelöst durch Gerüche oder Geräusche. Als ein Polizeihubschrauber über den Park fliegt, in dem wir das Interview führen, müssen wir unterbrechen. 2022 bekam er schließlich die Diagnose PTBS. Eine posttraumatische Belastungsstörung, bedingt durch die Erlebnisse in den Einsätzen, so steht es in den Akten. Der Weg zum Truppenarzt und dann zum Spezialisten war kein leichter. Seit 2021 ist Mike krankgeschrieben. Mit einer Therapie tut er sich schwer. Er sieht sich nicht in der Lage, Uniform zu tragen. Da käme alles wieder hoch, sagt er. Auch privat sei er nicht mehr der alte. Er meide Menschenansammlungen, ziehe sich zurück.

Entschädigung zu gering?

Heute kämpft der Berufssoldat darum, dass sein Dienstherr anerkennt, welche gesundheitlichen Folgen seine schwierigen Einsätze hatten. Die Entschädigungsleistungen der Bundeswehr, die auf dem Tisch liegen, will er nicht akzeptieren. Sie seien nicht angemessen.

Mike kritisiert auch, dass die sogenannte "sekundäre Traumatisierung" der Familienangehörigen nur stiefmütterlich von Seiten der Bundeswehr angegangen werde. Auch seine Familie erlebte die Einsätze von zu Hause aus. Musste alles allein managen und in Sorge um ihn leben. Mike ist nicht allein in dieser Situation, wie Gespräche mit mehreren Einsatzveteranen zeigen.

Kritik an Gutachten

Einer, der viele dieser Fälle kennt, ist der Rechtsanwalt Arnd Steinmeyer. Die Zahl der bisher vertretenen Mandanten: seinen Angaben zufolge vierstellig. Er vertritt auch Mike. Der Anwalt weiß: Häufiger Streitpunkt in den Verfahren ist der Grad der Schädigungsfolgen, abgekürzt GdS. Er gibt an, welche Beeinträchtigungen sich aus einer Erkrankung ergeben und ist damit die Grundlage für Entschädigungsleistungen. Nach einer medizinischen Diagnose und ärztlicher Behandlung wird der GdS von Gutachtern festgelegt. Stark vereinfacht ausgedrückt: Je höher ein Wert auf einer Skala in Zehnerschritten bis einhundert – desto schwerer die Beeinträchtigung und desto höher auch die Entschädigung.

Steinmeyer beobachtet, dass diese Gutachter häufig nur nach Aktenlage entscheiden. Sie sichten unter anderem die ärztlichen Diagnosen, führen aber keine eigenen Gespräche mehr. In den Augen von Steinmeyer ist das zu wenig, es werde der Sache nicht gerecht, sagt er. Die tatsächlichen Beeinträchtigungen der Soldaten würden nicht ausreichend erfasst.

Streit um Einstufung

Auch Mike erhielt einen entsprechenden GdS-Bescheid. Er liegt dem BR vor. Der Grad der Schädigung wurde zunächst auf 30 festgesetzt. Nachdem Mike Widerspruch einlegte, auf 40. Begutachtet wurde nach Aktenlage. In seinen Augen wäre aber ein noch höherer GdS angemessen. In seinen Akten finden sich Hinweise auf mindestens mittelgradige Beeinträchtigungen sowie eine "schwere PTBS".

Bei der Bundeswehr ist das "Bundesamt für Personalmanagement" mit Sitz in Köln zuständig. Eine Sprecherin schreibt auf Anfrage, im täglichen Leben wirkten sich psychische Störungen mal mehr, mal weniger aus. Aus diesem Grund sei gerade die Auswertung der im Behandlungsverlauf dokumentierten Beeinträchtigungen – also der Aktenlage – bedeutend. Die Gutachter hätten Erfahrung, seien Fachärzte und ihre Arbeit würde nochmals durch einen qualifizierten Arzt geprüft. Bei Unklarheiten werde eine Präsenzbegutachtung durchgeführt - was bei Mike bislang nicht erfolgte.

Er hat sich entschieden, zu klagen und will nun auf diesem Weg versuchen, die Leistungen zu erhalten, die ihm seiner Ansicht nach zustehen. Das Verfahren läuft. Wer im Recht ist, muss ein Gericht entscheiden.

Bundeswehrverband: "Vielschichtiges Problem"

Marcel Bohnert, stellvertretender Vorsitzender des Bundeswehrverbandes, also der Soldaten-Gewerkschaft, hat sich intensiv mit der Thematik befasst. Er spricht von einem "vielschichtigen" Problem.

In der Bundeswehr gebe es zwar sehr engagierte und leistungsfähige Menschen, die mit den Sachverhalten konfrontiert seien. Er habe dennoch immer wieder den Eindruck, dass es auch jene gebe, die sich "durch ihren administrativen, bürokratischen Vorgang herunterarbeiten", so Bohnert. Dazu kämen mitunter begrenzte Kapazitäten bei den Gutachtern oder auch eigenes Verschulden traumatisierter Soldaten, wenn Unterlagen nicht rechtzeitig eingereicht würden.

Stigma Traumatisierung?

Mit Posttraumatischen Belastungsstörungen sieht sich die Bundeswehr konfrontiert, seit Soldaten in den Neunzigerjahren erste Einsätze außerhalb des Nato-Gebiets hatten. PTBS gilt in der Bundeswehr als seltene Folgeerscheinung eines Einsatzes. Ein Register weist seit 1992 etwa 4.000 Soldatinnen und Soldaten auf, die an PTBS oder anderen psychischen Erkrankungen in Folge eines Einsatzes leiden. In dieser Zeit waren über 230.000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Viele auch mehrfach.

In den vergangen fünf Jahren stellten sich jährlich rund 200 Menschen neu mit einer PTBS bei Bundeswehrärzten vor. Dazu kommen andere psychische Folgeerkrankungen der Einsätze. Oberstarzt Peter Zimmermann geht jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus, bedingt durch eine Stigmatisierung, wie es sie in der Bundeswehr oder auch in vergleichbaren Bereichen gebe.

Bundeswehr nimmt Erkrankung ernst

Der Psychiatrieprofessor Zimmermann ist seit März auch PTBS-Beauftragter des Verteidigungsministeriums. Zuvor hat er über Jahre hinweg das Psychotraumazentrum am Bundeswehrkrankenhaus in Berlin aufgebaut und geleitet. Der Lebenslauf des Oberstarztes zeigt, dass die Bundeswehr die Erkrankung längst sehr ernst nimmt. Inzwischen gibt es unter anderem gezielte Therapieangebote, Informationen, Beratungsstellen, Wiedereingliederungsmodelle, eine Hilfs-App und eine Hotline. Zimmermann sieht viele Fortschritte – doch auch ein gutes System weise Schwachstellen auf, räumt er ein.

Deutsches Modell sucht international seines Gleichen

Eine Schwachstelle aus Sicht des Bundeswehrverbandes: die schwierige Wiedereingliederung von "geschädigten" Soldaten. Zwar sieht das "Einsatzweiterverwendungsgesetz" seit 2007 vor, dass Soldatinnen und Soldaten ein Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung sowie eine bis zu achtjährige Schutzzeit zur Genesung zusteht. International sucht dieses Modell nach Expertenmeinung seines Gleichen. Der Haken dabei ist, sagt Marcel Bohnert vom Bundeswehrverband, dass der Dienstalltag in der Kaserne retraumatisierend sein kann. Der Bundeswehrverband fordert deshalb, dass die Weiterverwendung nicht auf die Bundeswehr beschränkt bleibt, sondern auf den Öffentlichen Dienst ausgeweitet wird.

Einsatzveteran will Schlussstrich ziehen

Mike will nach Möglichkeit einen Schlussstrich ziehen: die Bundeswehr verlassen. Allerdings ohne dabei finanzielle Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, wie sie mit einem vorzeitigen Dienstzeitende und seiner derzeitigen Entschädigungs-Einstufung einhergehen würden. Denn er müsste auf bis zu 1.800 Euro netto pro Monat verzichten, rechnet er vor.

Nach seinem Empfinden wäre das eine Ungerechtigkeit und nicht hinnehmbar, weil er stets alles gegeben habe, sagt er. Wie der Eid es eben forderte. Nun verlangt er eine faire Behandlung, in der seine Beeinträchtigungen nicht nur nach Aktenlage begutachtet werden.

Mehr zu diesem Thema hören Sie heute (21.8.) um 12:17 Uhr in der Sendung Funkstreifzug im Radioprogramm von BR24. Am 29.9. strahlt Bayern2 ein Feature dazu aus. Sie finden die Sendung in der Feature-Fassung schon jetzt im Funkstreifzug-Podcast in der ARD Audiothek.

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