"Denken Sie an uns - die Geiseln, die immer noch hier in der Hölle sind, unter der Erde, ohne Wasser, Nahrung, medizinische Versorgung." Kein Zweifel: Das unter Zwang aufgenommene Geiselvideo des 24-jährigen Hersh Goldberg-Polin erschüttert Israel.
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Es verging nach der Ausstrahlung des Geisel-Videos kaum mehr als eine Stunde, dann zogen Hunderte Menschen am Mittwochabend vor die Residenz von Premierminister Benjamin Netanjahu in Jerusalem. Andere Demonstranten versperrten den Zugang zur Großen Synagoge in Jerusalem, in der sich der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, aufhielt.
Angehörige üben Kritik an "Zwischenfällen"
Die Stimmung unter den Familienangehörigen der Geiseln, seit Monaten schon von tiefer Enttäuschung über den Premierminister geprägt, gab Danny Algranat gegenüber der Tageszeitung "Ma’ariv" so wieder: "Jedes Mal, wenn wir kurz vor einer Einigung standen, gab es einen Zwischenfall, der die Einigung zunichtemachte. Alles, was getan werden musste, um das Abkommen zu gefährden, wurde vom Premierminister getan."
Damit dürfte Algranat, dessen Bruder Itzik in den Gaza-Streifen entführt wurde, auf mehrere Militäroperationen anspielen, die von den Familienangehörigen der Geiseln als kontraproduktiv für die Freilassung der Geiseln angesehen wurden: Dazu zählte etwa die Tötung der drei Söhne und drei Enkelkinder von Ismail Hanija, dem in Katar lebenden Auslandschef der Hamas vor zwei Wochen. Das israelische Militär bestätigte anschließend nur, dass bei einem Luftangriff auf ein Fahrzeug im Gaza-Streifens die drei Söhne Hanijas getötet worden seien, die alle zum militärischen Flügel der Hamas gehört hätten.
Auch der israelische Raketenangriff auf ein Gebäude des iranischen Botschaftskomplexes in Damaskus am 1. April, der 13 Tage später den erstmaligen, direkten Drohnen- und Raketenangriff des Iran auf Israel ausgelöst hatte, ließ das Schicksal der Geiseln im Gaza-Streifen medial und politisch in den Hintergrund rücken. Das Fazit von Danny Algranat gegenüber "Ma’ariv": Netanjahu könne "stolz darauf sein, dass er alles, aber auch wirklich alles getan hat, um das Abkommen zu verhindern".
Die Rolle Katars und das Geiselvideo
Katar könne in seiner Rolle als Vermittler eventuell nicht mehr länger "Dinge anbieten, die die Parteien selbst nicht anbieten" - mit dieser Erklärung sorgte der katarische Regierungschef Mohammed Bin Abdulrahman Al Thani Mitte der letzten Woche für Aufsehen.
Seit Wochen und Monaten lief der wesentliche Teil der indirekten Verhandlungen zwischen Israel, den USA, Ägypten und Katar einerseits und der Hamas andererseits über den einflussreichen Golfstaat. Mehrmals reisten die Geheimdienstchefs von CIA, Mossad sowie den beiden arabischen Sicherheitsdiensten nach Doha, um anschließend ergebnislos auseinander zu gehen.
Nachdem erhebliche Kritik aus Israel und von einigen amerikanischen Kongressmitgliedern an der Rolle Katars geübt worden war, schien für die katarische Führung der Zeitpunkt gekommen, um alle Beteiligten zu warnen: Katar bekenne sich "zu unserer Rolle aus einem humanitären Kontext heraus, aber dieser Rolle sind Grenzen gesetzt", sagte Katars Regierungschef al Thani.
Offenbar, so lautet die These des israelischen Journalisten Barak Ravid, habe die Hamas das Geisel-Video "als eine Geste des guten Willens gegenüber Katar" veröffentlicht. Der Hintergrund: Die US-Regierung habe die katarische Regierung mehrmals gebeten, "ein Lebenszeichen von Hersh Goldberg-Polin und anderen amerikanischen Staatsbürgern zu erhalten, die als Geiseln festgehalten werden", schreibt Barak Ravid auf dem Online-Portal "Walla News" unter Berufung auf israelische Regierungsquellen.
Für die Kataris sei ihr Erfolg, "ein Lebenszeichen zu erhalten, insbesondere von einem amerikanischen Staatsbürger, eine wichtige diplomatische Errungenschaft". Dies unterstreiche den Wert Katars für die Vereinigten Staaten und Israel und stelle Katars Fähigkeit unter Beweis, als Vermittler "zu liefern".
USA sollen Geiselvideo vorab erhalten haben
Bereits am Montag dieser Woche habe das Weiße Haus das Geisel-Video von Katar erhalten, berichtet der US-Sender CNN unter Berufung auf amerikanische Regierungsquellen. Daraufhin habe das Weiße Haus die Eltern des 24jährigen Hersh Goldberg-Polin verständigt, die während der gesamten Zeit seit der Entführung ihres Sohnes bei dem Terrormassaker der Hamas am 7. Oktober engen Kontakt zur US-Regierung unterhalten hätten.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Videos, das unter Zwang aufgenommen wurde und ihren am linken Arm verstümmelten Sohn zeigte, verlangten die Eltern in einer Online-Botschaft, sofort die Freilassung ihres Kindes sowie aller anderen Geiseln anzugehen. "Das Video von Hersh heute zu sehen, ist überwältigend", heißt es in der Video-Erklärung der Eltern Goldberg-Polin. Sie seien "erleichtert, ihn lebend zu sehen, aber wir sind auch besorgt um seine Gesundheit und sein Wohlergehen sowie um das aller anderen Geiseln und all derer, die in dieser Region leiden".
Unterdessen trat am Donnerstagmittag das sogenannte Kriegskabinett in Jerusalem zusammen, um "eine Reihe neuer Vorschläge" des israelischen Verhandlungsteams zu hören. Dies meldete der israelische Radiosender KAN in seiner Mittagssendung. Diese Vorschläge sollten dazu dienen, "die Gespräche über das Geiselabkommen wieder in Gang zu bringen". Zugleich erneuerte die israelische Regierung ihre Drohung mit "einer Invasion von Rafah". Dies solle den Druck auf die Hamas erhöhen, sich auf ein Abkommen zu einigen.
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