Eine Frau, die Opfer einer Gewalttat geworden ist, blickt aus dem Fenster.
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Peter Steffen

Die Bundesländer setzen das Opferentschädigungsgesetz nach BR-Recherchen nicht einheitlich um.

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Opferentschädigung in Deutschland: Warum sie unzureichend ist

Laut einer exklusiven BR-Umfrage fehlen in Ämtern einheitliche Entscheidungskriterien und Standards im Umgang mit traumatisierten Personen. Zudem haben Gewaltopfer bundesweit unterschiedlich gute Chancen auf Entschädigung.

Die Idee hinter dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ist aus Sicht von Expertinnen und Experten gut: Der Staat konnte die Betroffenen nicht vor der Gewalttat schützen, also sorgt er dafür, dass die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen (der Tat) ausgeglichen werden. Opfer von Gewalttaten wie Terroranschlägen, Überfällen oder sexuellem Missbrauch können daher einen Antrag auf Entschädigung stellen.

Im Antragsverfahren müssen detaillierte Angaben zur Tat und den daraus resultierenden Gesundheitsschäden gemacht werden. Bejaht das Amt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tat und Schädigung, haben Gewaltopfer unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Entschädigung. So regelt es das Opferentschädigungsgesetz – in der Theorie.

"Es geht um die Frage, wer überhaupt eine Chance hat, an diese besonderen Leistungen auch heranzukommen", sagt Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. In der Praxis werde das für Betroffene oftmals sehr schwierig.

  • Zum Artikel "Petition: Mehr Unterstützung für mehr Gewaltopfer"

BR-Umfrage: Keine Chancengleichheit auf Entschädigung

Das zeigt auch eine Umfrage von BR Recherche bei allen Bundesländern. Im vergangenen Jahr wurden nach deren Angaben deutschlandweit etwas über 10.000 OEG-Anträge entschieden – also entweder abgelehnt oder bewilligt. Knapp 60 Prozent der Entscheidungen waren Ablehnungen.

In Bayern beispielsweise wurden im vergangenen Jahr 383 OEG-Anträge bewilligt, abgelehnt wurden 529 Anträge. Knapp 60 Prozent der Entscheidungen waren also negativ. Nur in Hessen und Sachsen wurden mehr Anträge bewilligt als abgelehnt. Dort sind die Chancen auf eine Entschädigung für Gewaltopfer statistisch gesehen deutlich höher. In Sachsen waren im vergangenen Jahr fast 80 Prozent der Entscheidungen nach offiziellen Angaben positiv.

"Ein gutes Bundesgesetz muss individuelle Praxis der Länder verhindern"

"Das Problem ist, wie die jeweiligen Bundesländer das Opferentschädigungsgesetz umsetzen", sagt Professor Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum in Ulm. "Ein gutes Bundesgesetz müsste eine individuelle Praxis der Länder verhindern", sagt er. Betroffene, die beispielsweise umziehen, erlebten, dass in den Bundesländern unterschiedlich mit der Thematik verfahren werde. Er mache sich deshalb für einheitliche Fortbildungen auf Bundesebene stark.

Häufiger Ablehnungsgrund: Fehlende Beweise

Warum OEG-Anträge abgelehnt werden, werde von Behörden statistisch nicht erfasst, heißt es auf BR-Anfrage. Bayern teilt mit, erfahrungsgemäß gehöre zu den häufigsten Ablehnungsgründen, dass der Zusammenhang zwischen der Tat und den vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht bewiesen werden könne. Ein weiterer häufiger Grund für eine Antragsablehnung sei, dass die Taten nicht nachgewiesen werden können. Laut Experten gilt das besonders für Antragstellende, die in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, weil für es für diese Taten nur selten Zeugen gibt.

"Milieuschaden" – ethisch unangemessen?

Ein weiterer Ablehnungsgrund für eine Opferentschädigung kann der sogenannte Milieuschaden sein. Dieses Wort steht so in keinem Gesetz, aber sowohl Opferverbände als auch einige Behörden kennen diesen Begriff laut BR-Umfrage. Menschen aus schwierigen familiären Verhältnissen, die oftmals Gewalt und Vernachlässigung erleben, hätten das Problem, sagt Kerstin Claus, dass nicht eindeutig zuzuordnen sei, woher der aktuelle "Schaden" genau komme. "Diese Menschen haben per se häufig deutlich schlechtere Chancen, eine Entschädigung zu bekommen."

Das Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen schreibt, der Begriff sei "ethisch unangemessen". Das Konzept des "Milieuschadens" als Ablehnungsgrund sei "dringend überprüfungsbedürftig". Und trotzdem: Auch in Nordrhein-Westfalen wird in einem Ablehnungsbescheid, der dem BR vorliegt, genau so argumentiert.

BR-Umfrage: Keine Standards im Umgang mit traumatisierten Personen

Zudem fehlen einheitliche Standards im Umgang mit den Gewaltopfern. Sind Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter von OEG-Anträgen speziell im Umgang mit traumatisierten Menschen geschult, fragt der BR bei den zuständigen Versorgungsämtern nach. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus: In Bayern sieht man in dieser Hinsicht keinen Bedarf. "Direkter persönlicher Kontakt, der über das Schriftliche hinausgeht, ist sehr selten", sagt Thomas Kerner. Im "Zentrum Bayern Familie und Soziales", einer Landesbehörde im Ressort des bayerischen Sozialministeriums, ist Kerner zuständig für Opferentschädigung.

Auch in Hamburg sieht man den Schwerpunkt der Arbeit im juristischen Bereich. Aus dem hessischen Sozialministerium heißt es dagegen, die Betroffenen seien oft schwer traumatisiert und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daher im sensiblen Umgang mit Gewaltopfern geschult. Auch Nordrhein-Westfalen antwortet auf BR-Anfrage, mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien entsprechend geschult.

Neues Gesetz, alte Probleme

Die Durchführung der sozialen Entschädigung und damit auch des Opferentschädigungsgesetzes obliege allein den Ländern, die diese Aufgabe in eigener Verantwortung wahrnehmen, schreibt das zuständige Bundesarbeits- und Sozialministerium auf Anfrage. Die Länder führten das Opferentschädigungsgesetz "als eigene Angelegenheit durch". Jedoch weise das Ministerium durch jährliche Veranstaltungen auf die "Wichtigkeit opfersensibler Verfahren" und auf eine "bundeseinheitliche Gesetzesanwendung" hin.

Ab dem ersten Januar 2024 wird das Opferentschädigungsgesetz novelliert und die verschiedenen Regelungen im Sozialgesetzbuch XIV zusammengefasst. Neu ist beispielsweise, dass ab 2024 auch Opfer psychischer Gewalt sowie schweren Stalkings eine Entschädigung beantragen können. Außerdem werden künftig sogenannte Fallmanagerinnen den Antragsprozess beratend begleiten. Alles in allem sehen Experten aber vor allem formale Fortschritte. Was die Länge der Verfahren, die Kompetenz der Sachbearbeitenden angeht, bestünden die Probleme weiter.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!