Überall auf der Welt rufen Exil-Iraner und Menschenrechtsorganisationen zu Protesten gegen die Regierung in Teheran auf. In Deutschland sind in den vergangenen Wochen gut 10.000 Menschen auf die Straße gegangen. Die meisten kamen nach Polizeiangaben in Berlin zusammen: Insgesamt 5.000 Personen haben in der Hauptstadt protestiert. In Hamburg waren es etwa 4.000 und in Frankfurt am Main rund 2.800. Auf Plakaten und in Sprechchören verurteilten sie die Gewalt gegen Demonstrierende im Iran, forderten mehr Rechte für Frauen und die Freilassung politischer Gefangener.
Solidaritätsbekundungen nach dem Tod von Mahsa Amini
Hintergrund der Solidaritätsbekundungen ist die gewaltsame Niederschlagung von Protesten im Iran nach dem gewaltsamen Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Die iranische Sittenpolizei hatte die junge Frau festgenommen, weil sie ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit nicht korrekt getragen hatte. Sie kam während ihrer Inhaftierung ums Leben. Doch was bringen Demonstrationen in Frankfurt, Berlin oder Hamburg den Menschen im Nahen Osten?
"Proteste in Deutschland haben zunächst mal den größten Effekt auf die deutsche Regierung", sagt der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq im BR24 Podcast "Dreimal besser".
Der Forscher vom Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg beschäftigt sich seit Jahren mit den Protesten im Iran. Wer hierzulande protestiert, sagt Sydiq, der erhöhe den Druck auf die deutsche Regierung, ihre Politik anzupassen und über Sanktionen nachzudenken. Demonstrationen in Deutschland würden aber durchaus auch von Protestierenden im Iran wahrgenommen – als Solidaritätserklärung, die motivierend wirken könne.
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Studierende protestieren für Studierende
Obwohl die iranischen Medien stark zensiert werden, nimmt die Bevölkerung durchaus wahr, wenn Menschen im Ausland ihre Stimme erheben, sagt Protestforscher Sydiq. Denn Iranerinnen und Iraner konsumierten ausländische Medien, Untergrundsender und nutzten trotz aller Widrigkeiten auch das Internet. "Deswegen können solche Symboliken durchaus einen Effekt erzielen, wenn sie registriert werden."
Besondere Beachtung fänden weltweite Proteste, auch die in Deutschland. Aber auch ganz gezielte Solidaritätsbekundungen seien hilfreich. Zum Beispiel, wenn Studierende im Ausland sich für Studierende im Iran einsetzten, wie zuletzt in Hamburg. Das bediene eine gemeinsame Identität. Es falle viel schwerer zu protestieren, wenn man denke, man gehöre zu einer Minderheit. "Dann ist es viel leichter zu sagen: 'Okay, dann bleibe ich einfach zu Hause.'" Wenn man das Gefühl habe, unterstützt zu werden, verschiebe sich die Risikokalkulation.
Soziale Medien als Informationslieferanten
Protestforscher Sydiq beobachtet auch, welche Rolle soziale Medien in der jetzigen Situation spielen. Im Gespräch mit BR24 betont er: "Wir hätten viele Details über die Proteste gar nicht mitbekommen." Gerade die Iranerinnen hätten Informationen über die Demonstrationen geschickt und effektiv geteilt. Exil-Iranerinnen und Journalisten hätten sie gestreut und Influencer und Privatpersonen sie dann wiederum aufgegriffen. So habe auch die Berichterstattung in den Medien Fahrt aufgenommen.
Durch die sozialen Medien und Influencer sei ein gewisser Druck entstanden, nach dem Motto "Okay, alle reden darüber. Jetzt müssen wir auch berichten." Für besonders viel Aufmerksamkeit in Europa haben die Aktionen prominenter Künstlerinnen und Künstler gesorgt. So hat der diesjährige Buchpreisgewinner Kim de l’Horizon die Preisverleihung genutzt, um sich in aller Öffentlichkeit die Haare vom Kopf zu rasieren. Davor hatten sich Schauspielerinnen wie Juliette Binoche oder Isabelle Huppert aus Solidarität mit den Frauen im Iran Haare abgeschnitten. Zahlreiche Medien haben die Aktionen aufgegriffen.
Physischer Protest sorgt für mehr Aufmerksamkeit
Wenn es allerdings darum geht, Einfluss auf die Politik des deutschen Außenministeriums zu nehmen, sind soziale Medien weniger geeignet, meint Sydiq. "Da sind Meinungsäußerungen auf sozialen Medien deutlich weniger effektiv, als wenn ein Bruchteil der Personen, die sich dort äußern, auf die Straße gehen."
Wer physische Präsenz zeige, zeige eine viel größere Hingabe und drücke damit aus, dass ihn das Thema bewege. Laut Sydiq ist es viel schwieriger, Protestierende zu ignorieren, die mitten auf der Straße oder vor dem Ministerium stünden und den Alltag "störten".
Konfliktforscher Sydiq ist überzeugt: Selbst wenn die Proteste im Iran in den kommenden Wochen mit Gewalt eingehegt werden sollten, sei "das Image des übermächtigen Regimes in den vergangenen Jahren mehrmals angekratzt worden" und habe "jetzt noch einmal einen sehr großen Dämpfer bekommen".
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