Zwei Wochen sind vergangen seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Und je weniger es der russischen Führung gelingt, ihre militärischen Ziele zu erreichen, je erfolgreicher sich die Ukrainer gegen dem Aggressor zur Wehr setzen, desto größer sind die Zerstörungen in vielen Teilen des Landes.
Noch ist der Ausgang des Krieges völlig offen. Mehr als zwei Millionen Menschen sind bisher aus der Ukraine geflohen. Aus der Kornkammer Europas ist ein Schlachtfeld geworden. Mit zuletzt fast 30 Millionen Tonnen zählte die Ukraine vor Beginn des Krieges zum sechstgrößten Getreide-Produzenten der Welt.
Dass es heuer eine gesicherte Ernte geben wird, ist schwer vorstellbar. Wie sieht die Lage derzeit aus Sicht der landwirtschaftlichen Betriebe in der Ukraine aus?
Darüber hat BR24 mit Alex Lissitsa gesprochen, Agrarökonom, Präsident der Vertretung der Ukrainischen Agrarwirtschaft und Geschäftsführer von IMC, einem der größten Landwirtschaftsunternehmen des Landes.
Kein Tierarzt, kaum Futter
Wir erreichen Alex Lissitsa per Videoschalte in seinem Unternehmen IMC. Neben dem Anbau von Getreide und Ölsaaten sowie deren Lagerung betreibt IMC auch Milchwirtschaft. Alex Lissitsa selbst leitet einen großen Milchviehbetrieb. Wie sieht dort jetzt gerade der Alltag aus, wollen wir wissen. "Kurz gesagt: Es ist eine Katastrophe", sagt Lissitsa. "Unser Milchviehbetrieb mit knapp tausend Milchkühen ist an der Grenze zu Weißrussland im Norden der Ukraine, also circa 120 Kilometer nördlich von Kiew, und momentan ist es so, dass wir leider keine tierärztliche Versorgung haben und dass auch Futter fehlt. Das heißt, die Tiere werden halt jetzt mit sehr knappen Ressourcen versorgt."
Kein Strom, kaum noch Treibstoff
Hinzu kommt noch, dass der Betrieb seit Mittwoch ohne Strom ist. Der kommt jetzt aus Notstromgeneratoren, aber für die reicht der Treibstoff nur noch wenige Tage: Dann wird auch die Melkanlage nicht mehr funktionieren. Was dann passiert, weiß er noch nicht. Auch die Abnahme der Milch funktioniert nicht mehr, sagt Lissitsa: "Wir haben jetzt in den letzten zwei Wochen Milch einfach mal auf dem Land verschenkt. Die Versorgung ist ziemlich schlecht auf dem Land."
Lebensgefahr auf den Straßen
"Auf der anderen Seite sind jetzt die Straßen unsicher", sagt Alex Lissitsa. "Die Russen sind jetzt praktisch nördlich von Tschernihiw, aber auch nördlich von Kiew, überall. Das heißt, ich kann meine Mitarbeiter nicht schicken, irgendwas zu holen. Vorgestern ist in einem Auto eine vierköpfige Familie erschossen worden, auf der Straße nördlich von Tschernihiw. Dabei sind alle vier ums Leben gekommen, eine Familie mit zwei Kindern. Insofern: Was ich jetzt beschlossen habe ist, dass die Sicherheit der Mitarbeiter an erster Stelle steht auf der Prioritätenliste." Vielleicht gelinge es dem Betrieb, die Tiere zu retten, aber über Produktivität, sagt der Unternehmer, brauche man nicht mehr zu reden.
Raketen und schlechte Nachrichten
Gerade, sagt er, werde sehr viel gekämpft im Norden der Ukraine. Kurz vor unserem Gespräch habe er noch mit seinem Geschäftsführer in Tschernihiw gesprochen: "Wir haben dort eine Siloanlage am Rand der Stadt, mit 120.000 Tonnen Lagerkapazität. Eine Rakete ist in ein Nebengebäude eingeschlagen. Es gab Feuer. Gott sei Dank war das nicht die Siloanlage mit knapp 50.000 Tonnen Mais. Wenn dort eine Rakete direkt in die Siloanlage einschlagen würde, das wäre natürlich eine Katastrophe, weil so was zu löschen, wäre praktisch nicht denkbar. Insofern: Wir leben halt in einer Zeit, wo wir alle 20 Minuten was Neues bekommen und meistens was Negatives."
Wenig Hoffnung für den Milchbetrieb
"Mit der Milchfarm", sagt Lissitsa, "ist es eine Katastrophe. Das wird nichts mehr werden - mit einer der modernsten Milchfarmen in der Ukraine. Aber auch die Siloanlage in der Nähe von Tschernihiw am Rande der Stadt steht jetzt unter Beschuss. Und ich weiß nicht, ob das noch bis morgen stehen wird. Insofern: Die Situation ist katastrophal."
Alles vorbereitet für die Aussaat
Wie steht es um die Betriebsmittel, um jetzt im Frühjahr mit der Aussaat zu beginnen? Gibt es Saatgut? Diesel? Das, sagt Alex Lissitsa, sei ein weiteres Problem. In zwei Regionen - Tschernihiw und Sumy - werde jetzt gerade gekämpft. Saatgut und Düngemittel seien vorhanden. An ein Ausbringen sei aber angesichts der Kämpfe nicht zu denken. Auch Diesel habe man kurz vor Beginn des Krieges noch gekauft. Die Lager seien zu 100 Prozent voll gewesen.
Diesel für die Streitkräfte
Der Treibstoff sei mittlerweile an die ukrainische Armee abgegeben worden. Und an die Kräfte der lokalen Verteidigung. Einen Rest habe man, als der Feind näher rückte, verbrannt, sagt Lissitsa: "Wir haben so gut wie keinen Treibstoff momentan. Aber auch die Lage insgesamt in der Ukraine ist ziemlich schwierig. Ich hatte gestern noch einmal mit der Regierung gesprochen. Eigentlich haben wir knapp 20 Prozent des Treibstoffs, der notwendig ist, um die Aussaat machen zu können. Insofern: Selbst wenn der Krieg morgen beendet wäre, wird sich die Lage beim Treibstoff nicht entspannen."
Fehlender Pflanzenschutz
Was dem Betrieb fehlt, sind auch Pflanzenschutzmittel. Vieles werde importiert, auch aus Deutschland. Einiges, sagt Alex Lissitsa, sei angekommen, anderes wiederum nicht. Er glaube auch nicht, dass sich daran in den nächsten zwei, drei Wochen etwas ändern werde: "Die Lage ist ziemlich angespannt. Und ich glaube nicht, dass die Ukraine insgesamt, aber auch unser Betrieb in der Lage wäre, eine Aussaat im Frühjahr machen zu können. Das wird superschwierig."
Ernte im Sommer?
Ob es in der Ukraine im Sommer überhaupt eine Ernte geben wird, wollen wir von Alex Lissitsa wissen. Oder werde das eher nicht der Fall sein? "In einigen Regionen", meint er, "sieht das genauso aus, speziell die sogenannten Weizenregionen. Und das ist ja der Süden der Ukraine oder der Osten der Ukraine, wo ja immer wieder gekämpft wird, das heißt, ich glaube nicht." Vielleicht werde es eine kleine Ernte geben, je nachdem wie der Krieg verlaufe und wann er beendet sei: "Das würde dann ausreichen für die ukrainische Nahrungsmittelsicherheit. Allerdings würde das natürlich nicht heißen, dass wir exportieren werden. Das glaube ich nicht. Aber wie gesagt, das wird sich vielleicht ändern und das wird man halt sehen in den nächsten zwei, drei Wochen."
Fehlende Mitarbeiter, Sorge vor Minen
Die gleiche Lage, sagt der Unternehmer, gebe es auch bei Mais, Sonnenblumen, Soja: "Man weiß ja nicht, ob wir überhaupt aufs Feld dürfen. Man weiß ja auch nicht, ob unsere Mitarbeiter, die momentan auch mobilisiert werden für die Streitkräfte, für die Armee, ob sie halt zu dem Zeitpunkt auch schon frei sind. Wir wissen auch nicht, ob die Felder mit Minen versetzt sind oder nicht. Das sind die Fragen, die wir momentan leider nicht beantworten können. Das Gleiche gilt auch für die Inputs, die wir bereits eingekauft haben und die halt gelagert werden. Ob sie noch die nächsten zwei, drei Wochen, die ganzen Bombardements, die wir erleben, jede Nacht, überleben werden. Da sind tausende offene Fragen."
Relative Ruhe im Westen
Während die russische Armee die Ukraine von Norden, Osten und Süden angreift, sei der Westen des Landes bislang noch weniger betroffen, sagt Alex Lissitsa: "Momentan gibt es ein normales Leben, wenn man das als normal betrachten kann, in der Westukraine. Da gibt es sehr wenig Bomben. Die Westukraine funktioniert noch einigermaßen. Unsere westukrainischen Kolleginnen gehen auch zum Teil aufs Feld." Aber die Westukraine mache eben nur ein Drittel der gesamten Produktion des Landes aus. Ein klein wenig Hoffnung hat Lissitsa dann doch: "Was wir halt immer wieder sagen und schätzen, ist: Wenn die Ukraine 50 Prozent der Fläche im Frühjahr bearbeiten kann, das wäre schon ein Erfolg."
Zurück auf dem Weltmarkt: 2023 vielleicht
Wann wird die Ukraine wieder in der Lage sein, auch den Weltmarkt mit Getreide beliefern zu können? Das, sagt Alex Lissitsa, hänge davon ab, wann der Krieg zu Ende gehe: "Wenn es in den nächsten zwei, drei Wochen ist, dann ist es eine Geschichte. Wenn es in den nächsten drei, vier Monaten ist, dann ist das die andere Geschichte. Und wenn es sich bis Ende des Jahres zieht, dann ist das völlig was anderes. Also ich gehe davon aus, dass irgendwie der Krieg in den nächsten Wochen vielleicht mal endet. Und das heißt dann, wir werden dieses Jahr mit Mühe überstehen. Dann im Herbst kommt wiederum die Weizenaussaat ja, ich kann mir vorstellen, dass wir uns besser vorbereiten." Eine wichtige Frage sei auch, ob die Banken bereit seien, die Landwirte zu finanzieren. Denn viele von ihnen stünden jetzt vor dem Nichts. Er denke aber schon, sagt Alex Lissitsa, "dass wir im Jahr 2023 auf den Weltmarkt zurückkommen." Vielleicht mit einer geringeren Produktion als in den letzten Jahren. "Aber nur, wenn der Krieg bald zu Ende geht."
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