Als zu Jahresbeginn der russische Angriffskrieg in der Ukraine ausbrach, flohen Millionen Ukrainer vor den Kämpfen aus ihrer Heimat. In den vergangenen Tagen sind es vor allem Russen, die ihr Land fluchtartig verlassen wollen - offenbar aus Angst über die jüngste Eskalation im Krieg gegen das Nachbarland: Russlands Präsident Wladimir Putin verkündete am Mittwoch, 300.000 Reservisten zur Unterstützung russischer Truppen einzuziehen.
Im Netz mehren sich seitdem Suchbegriffe wie "Russland ohne Geld verlassen", Direktflüge in Nachbarländer sind über Tage ausgebucht und Finnland meldet ein erhöhtes Reisevorkommen an der gemeinsamen Grenze mit Russland. Gleichzeitig werden Proteste gegen die Teilmobilmachung in vielen russischen Städten mit harter Hand unterdrückt und bekämpft. In München beobachten viele Russen besorgt die Vorkommnisse in ihrer Heimat. BR24 hat mit einigen von ihnen gesprochen.
Aktivistin: Das ist mehr als eine Teilmobilmachung
Niedergeschmettert - so fühlt sich die russische Aktivistin Irina Hofmann, wenn sie Nachrichten aus ihrem Heimatland liest. Sicher, sie habe damit gerechnet, dass Kremlchef Wladimir Putin Reservisten einziehen werde, um die russischen Soldaten und prorussischen Separatisten im Kampf gegen die Ukraine zu unterstützen. Und trotzdem habe sie es bis zuletzt nicht glauben können, sagt die gebürtige Russin im Gespräch mit BR24.
Ihre Heimat sei angesichts von Putins Plänen von einer allgemeinen "Starre" ergriffen worden, sagt Hofmann. In ihrem Umfeld sei die Angst groß. Bei vielen ihrer Freunde aus den sozialen Netzwerken sei bereits der Einberufungsbescheid eingetroffen. Hofmann glaubt, dass dies mehr als eine Teilmobilmachung sein könnte, vielmehr scheint es ihr wie eine allgemeine Mobilmachung. Denn es gebe kaum Ausnahmen bei den Einberufungen.
Viele Russen würden jetzt versuchen, noch schnell aus dem Land auszureisen. Hofmann selbst ist bereits vor Jahrzehnten nach Deutschland gekommen. Sie ist in München mit einem Deutschen verheiratet und protestiert seit Jahren gegen Putin - auch vor dem russischen Konsulat, in dessen Nähe sie wohnt.
Künstler: Krieg rückt näher an russische Bevölkerung heran
"Das Unheil nimmt weiter seinen Lauf", sagt Wanja Belaga. Der Künstler und Musiker aus München ist in Moskau geboren und lebt seit er elf Jahre alt ist in der Landeshauptstadt. Seine Eltern kommen aus der Ukraine. Dass Putin nun eine Teilmobilmachung angeordnet hat, ist für Belaga ein Zeichen: Die Eskalation des Krieges gegen die Ukraine gehe weiter und spitze sich zu. Überraschend kam die Teilmobilmachung auch für ihn nicht.
Dass Putin nun Reservisten einzieht, zeigt laut Belaga: "Putin und sein Regime stehen unter großem Druck." Dass der russische Präsident auch weitere Schritte gehen könnte, besorgt Belaga. "Ich bin immer erstaunt, wie selbstsicher unsere Politiker glauben, dass er keine größeren Bomben werfen wird – ich bin mir da nicht so sicher", sagt er gegenüber BR24.
Mit der Teilmobilmachung rücke der Krieg nun näher an die russischen Bevölkerung heran. "Das, was in der Ukraine passiert, ist für die Russen nun nicht mehr so abstrakt", so Belaga. Dass sich die Jugend nun zum Teil wieder auf die Straßen traue, zeige, wie sehr sie das Thema beschäftige. "Man darf nicht unterschätzen, was das für die Menschen bedeuten kann, wenn sie öffentlich protestieren", so der 53-Jährige.
Viele Russen wollten nicht in den Krieg. Deswegen glaubt Belaga auch, die Leute würden versuchen, "davon zu kommen" und Flüge ins Ausland zu ergattern, um dem Einzug ins Militär zu entgehen. "Die Leute wollen nicht im Krieg kämpfen - und die Russen haben nichts davon", sagt Belaga und fügt hinzu: "Auch die Ukrainer wollen das nicht, aber sie haben mit der Verteidigung ihres Landes zumindest einen Grund."
- Zum Artikel: Russische Teilmobilmachung: So reagiert das Netz
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Mit Radioprogramm gegen die Kreml-Propaganda
Putins Mobilmachung beschäftigt die beiden Journalistinnen Julia Smilga und Marina Balaban schon länger. Die gebürtige Russin und die Ukrainerin haben in München den Sender "Radio Wahrheit für Russland" gegründet und dort immer wieder über die wohl bevorstehenden Schritte in dem Krieg gesprochen.
Die Ukrainerin Balaban ist mit ihrem Mann und den drei Kindern am zweiten Tag nach Kriegsausbruch aus Kiew geflohen. Seitdem versucht sie in München, sich ein neues Leben aufzubauen. Die Angst um Angehörige und Freunde begleitet sie schon seit Monaten: "Meine Mitbürger sind sowieso jeden Tag in Gefahr. So oder so fliegen Raketen und Bomben. Wovor wir Ukrainer Angst haben: dass chemische oder Atomwaffen verwendet werden."
Die Russin Smilga aus Sankt Petersburg lebt schon seit 25 Jahren in der bayerischen Hauptstadt, längst hat sie auch einen deutschen Pass. Als Journalistin ist sie unter anderem für den Bayerischen Rundfunk tätig. Für Putins jüngste Pläne hat sie nur düstere Worte übrig: "Ich glaube, er hat die Hälfte der männlichen Bevölkerung Russlands jetzt zum Tod verurteilt."
Über die vermehrten Ausreisen aus ihrer Heimat wundert sie sich nicht: "Das war genauso auch meine Verwandten und Freunde in Russland klar, und diejenigen, die das befürchtet haben, die haben ihre Kinder schon außer Landes gebracht."