Auf die russische Offensive in der Region Charkiw war die ukrainische Armee offenbar nicht ausreichend vorbereitet - oder sie kann ihr im Augenblick nicht genug entgegensetzen: Wegen des Vorrückens des Feindes beschloss die Militärführung in Kiew nun, die eigenen Truppen aus mehreren umkämpften Orten im Nordosten des Landes abzuziehen. Aufgrund der Kampfentwicklungen seien im Raum Lukjanzi und Wowtschansk Truppen verlegt worden, um das Leben der Soldaten zu retten, sagte ein Armeesprecher im Fernsehen. Die Einheiten seien auf günstigere Positionen verlegt worden.
Gleichzeitig kündigte die ukrainische Regierung an, zusätzliche Soldaten zu entsenden. Der Generalstab erklärte, die Lage in der Region sei "nach wie vor schwierig". Die Armee werde es jedoch den russischen Besatzern nicht erlauben, Fuß zu fassen. Wegen der kritischen Lage verzichtet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zudem in den kommenden Tagen auf alle Auslandsreisen. Später teilte Selenskyi in seiner allabendlichen Videobotschaft mit, man habe die Lage vor Ort durch den Einsatz von Artillerie, Infanterie und Drohnen teils stabilisieren können.
Die neuerliche russische Offensive in der Region Charkiw läuft seit Ende vergangener Woche. Ukrainischen Angaben zufolge hat Moskau dafür 30.000 Soldaten entsandt. Die Behörden haben wegen des russischen Vormarschs bereits 8.000 Zivilisten von dort in Sicherheit gebracht - vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Dennoch wurden laut Innenministerium dort zuletzt innerhalb eines Tages drei Zivilisten durch russischen Beschuss getötet. Zugleich betont Kiew, dass die Millionenstadt Charkiw durch die Offensive nicht bedroht sei.
"Straßenkämpfe in Wowtschansk"
In der Stadt Wowtschansk mit einst 17.000 Einwohnern an der unmittelbaren Grenze zu Russland stellt sich die Situation anders dar. Den Behörden zufolge gibt es heftige Straßenkämpfe. Der örtliche Polizeichef sagte in Onlinemedien: "Wir sind hier, evakuieren die Menschen und helfen ihnen." Die Lage sei extrem gefährlich.
Moskau: Weitere Orte eingenommen
Moskau meldete derweil, die russischen Streitkräfte hätten die Dörfer Hlyboke und Lukjanzi "befreit" und seien tief in die feindlichen Verteidigungslinien vorgedrungen. Auch im Süden der Ukraine in der Region Saporischschja meldet das russische Militär Geländegewinne. Sie hat demnach das zerstörte Dorf Robotyne eingenommen, das im vergangenen August nach heftigen Kämpfen von den ukrainischen Truppen zurückerobert worden war. Kiew hatte dies als Erfolg der Gegenoffensive gefeiert. Der Sprecher des ukrainischen Militärs, Dmytro Pletentschuk, wies die Angaben Moskaus zurück, wonach der Ort inzwischen wieder russisch besetzt sei: "Diese Information ist nicht wahr."
Nach Einschätzung von Militärexperten könnte Moskau die Ukraine mit der Offensive in der Region Charkiw zwingen wollen, Truppen aus anderen Gebieten abzuziehen, etwa aus der strategisch wichtigen Stadt Tschassiw Jar in der östlichen Region Donezk. Dort rücken die russischen Streitkräfte ebenfalls weiter vor.
Tote durch russischen Beschuss in Dnipro
Auch in anderen Landesteilen setzte Russland seine Angriffe fort. Bei Raketenbeschuss auf die Stadt Dnipro im Zentrum der Ukraine wurde Behörden zufolge mindestens zwei Menschen getötet. Zudem wurde Infrastruktur beschädigt, wie der Gouverneur mitteilte. In der südlichen Stadt Mykolajiw gab es laut Behörden mindestens fünf Verletzte. Die Angaben beider Kriegsparteien lassen sich aktuell nicht unabhängig bestätigen.
Kremlchef Putin lobte die militärischen Erfolge. Bei einem Treffen mit hochrangigen Armeevertretern sagte Putin: "Seit diesem Jahr verbessern unsere Truppen in allen Richtungen täglich ihre Positionen." Zugleich verlangte der russische Machthaber mehr Tempo bei der Rüstungsproduktion.
Weitere Militärhilfe der USA
US-Außenminister Antony Blinken setzte derweil seinen zweitägigen Besuch in der Ukraine fort. Bei einer Pressekonferenz mit seinem Kollegen Dmytro Kuleba sagte er dem Land weitere Militärhilfen in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar zu. Das Geld stammt aus einem Hilfspaket im Umfang von 61 Milliarden Dollar, dem der US-Kongress im vergangenen Monat nach monatelanger Blockade zugestimmt hatte.
Mit Informationen von dpa, AFP und Reuters.
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