Diese Nachricht sorgte am Wochenende für großes Aufsehen: Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte das Video eines Raketenangriffs. Darauf soll zu sehen sein, wie eine Hyperschall-Rakete ein unterirdisches ukrainisches Raketenarsenal im Westen des Landes zerstört.
Die Mitteilung sorgte aus zwei Gründen für ein lautes Echo: Es wäre der erste Einsatz einer sogenannten Hyperschall-Rakete. Und: Dieser Einsatz wäre auch nah an den Grenzen von Nato-Staaten passiert. Der Ort Deljatyn, in dem das Raketenarsenal zerstört worden sein soll, liegt rund 100 km von der rumänischen Grenze entfernt. Auch die Grenzen zu Ungarn und der Slowakei sind nicht weit entfernt.
Nach eigenen Angaben setzte Moskau die Waffen kurz danach ein zweites Mal ein. Ein Treibstofflager im Süden der Ukraine wurde demnach getroffen. Der Militärstützpunkt im Gebiet Mykolajiw sei aus dem Luftraum über der von Russland annektierten Halbinsel Krim angegriffen worden, erklärte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow.
"Kinschal"-Raketen: Schnelle und manövrierfähige Waffe
Bei den eingesetzten Waffen soll es sich um Raketen vom Typ "Kinschal" handeln, zu Deutsch: "Dolch". Moskau behauptet, dass die "Kinschal"-Raketen bis zu Mach 10, also zehnfache Schallgeschwindigkeit bis über 12.000 Kilometer pro Stunde erreichen können. In einem Nato-Dokument aus dem November 2020 heißt es dagegen, die Raketen könnten nicht schneller als Mach 5 fliegen. Zum Vergleich: Ein Marschflugkörper vom Typ Tomahawk fliegt mit einer Geschwindigkeit von rund 900 km/h.
"Diese Gleitflugkörper sind mit Oberflächenmerkmalen wie Flügel oder bestimmte geometrische Formen ausgestattet, sodass sie innerhalb der Erdatmosphäre wieder Auftrieb bekommen und manövrierfähig sind", erklärt Tim Thies im Interview mit BR24. Thies ist im Bereich der Rüstungskontrolle am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg tätig und Experte für Hyperschall-Flugkörper. Mit diesen Eigenschaften fliegen diese Hyperschall-Raketen tiefer als ballistische Raketen, innerhalb der Erdatmosphäre – "damit sind sie schwieriger abzufangen für Raketenabwehrsysteme und für Flugabwehrsysteme", so Experte Thies.
Reichweite von offenbar bis zu 2.000 Kilometern
Die Raketen des Typs "Kinschal" werden von Kampfjets des Typs MiG-31 in großer Höhe abgefeuert. Erst in sicherer Entfernung vom Flugzeug zündet das eigene Raketentriebwerk. Es trägt die "Kinschal" erst bis zu 20 Kilometer in die Höhe und dann hinab zum Ziel. Beim Start von einer MiG-31 hat das Waffensystem nach russischen Angaben eine Reichweite von bis zu 2.000 Kilometern. Die Raketen können mit einem konventionellen oder einem nuklearen Sprengkopf bestückt werden. Laut Thies geht man von "Beständen im niedrigen zweistelligen Bereich" aus.
Seit 2018 ist Russland im Besitz der Hyperschall-Waffen – auch China besitzt derartige Raketen, der Westen allerdings nicht. Eine Tatsache, die der russische Präsident Wladimir Putin 2019 als großen Erfolg verkaufte: "Wir haben jetzt eine Situation, die in der modernen Geschichte unseres Landes einzigartig ist. Sie versuchen jetzt, uns einzuholen. Kein anderes Land verfügt über Hyperschall-Waffen", erklärte Putin.
Zweifel am Beschuss des Munitionslagers
Aber hat Russland tatsächlich - wie angeben - ein Munitionslager mit einer Hyperschall-Waffe zerstört? "Das Video wirft Fragen auf", sagt Tim Thies vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Zuletzt hatte es erste Zweifel an Moskaus Darstellungsweise gegeben – und Rüstungsexperte Thies sieht das ähnlich. "Es scheint tatsächlich so, dass das, was auf dem Video zu sehen ist, kein Waffenlager ist, sondern eine Farm in der Ostukraine".
Das Portal "The War Zone" hatte Moskaus Version aus mehreren Gründen infrage gestellt. Später ergänzten die Autoren nach Auswertung von Satellitenbildern: "Wir können nun mit Sicherheit sagen, dass dieser Angriff nicht im westlichen Teil des Landes passiert ist und auch nicht auf eine große Munitionsfabrik".
Die Aufnahmen zeigen demnach die von Thies genannte Farm im Osten des Landes, rund 130 Kilometer südöstlich von Charkiw. Auch die zeitliche Abfolge passt demnach nicht: Das Datum der Satellitenbilder ist laut Angaben des Anbieters der 12. März – bereits da ist das Areal zerstört, der Angriff muss demnach vorher stattgefunden haben. Moskau sprach dagegen von letztem Freitag.
Russland hat die Waffen wohl dennoch eingesetzt
Heißt das, dass Russland gar keine Hyperschall-Waffen eingesetzt hat? Offenbar nicht. "Gleichzeitig haben Mitarbeiter aus dem US-Verteidigungsministerium am Samstag erklärt, dass die USA erkennen konnten, dass Russland diese 'Kinschal'-Raketen im Laufe der Woche mehrmals eingesetzt hat", so Thies. Für den Experten heißt das: "Auch wenn das Video und die Erklärung nicht zusammenpassen, scheint es schon zu stimmen, dass Russland diese Waffen eingesetzt hat."
Leere Lager oder große Propaganda?
Egal ob Russland diese Waffen am angegebenen oder an anderen Zielen eingesetzt hat - dass sie offenbar verwendet wurden, sei überraschend. Man könne das Vorgehen laut Thies in zwei Richtungen interpretieren. "Zum einen könnte man darauf schließen, dass die Raketen- und Marschflugkörper-Bestände von Russland zur Neige gehen." Moskau müsse demnach aus Mangel zu diesen Waffen greifen, auch wenn sie das bisher nicht vorgehabt hätten.
Die zweite Erklärung wäre laut Thies, dass Russland "eine Warnung an die Nato" abgeben will. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Russland den Angriff auf die Ukraine weder gut geplant noch bisher gut umgesetzt hat. Der Einsatz dieser Waffen könnte laut Thies das Signal Moskaus an den Westen sein: "Unterschätzt uns nicht, denn wir haben immer noch diese hochwertigen Raketensysteme."
Ähnlich äußerte sich der CDU-Verteidigungspolitiker Johann Wadephul. Er spricht ebenfalls von einem "Signal an die Nato: Mischt Euch nicht ein, denn wir sind im Besitz von Waffen, gegen die ihr euch kaum verteidigen könnt". Auch der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Ulrich Lechte, erklärte: "Leider besteht diese Fähigkeitslücke der Nato, die wir dringend schließen müssen." Der Einsatz sei "historisch und eine weitere Eskalationsstufe".
US-Verteidigungsminister sieht keinen Wendepunkt
Zurückhaltender äußerte sich dagegen US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Dem Sender CBS erklärte er, dass er den Einsatz dieser Waffen nicht für einen entscheidenden Wendepunkt im Kriegsverlauf halte. Putin wolle lediglich wieder Schwung in den Vormarsch seiner Truppen bekommen.
Dass im Westen nun viel über diese Waffentechnik gesprochen wird, sei aber "ein bisschen zum Propagandasieg für Russland" geworden, sagt Tim Thies vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik.
Mit Material von dpa.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!