Eine geheime Unterkunft irgendwo in Kostjantyniwka im Donbass: Die russischen Truppen sind hier nur gut zehn Kilometer entfernt. Meter für Meter rücken sie vor. Die Stadt im Oblast Donezk steht immer wieder unter Beschuss.
Mittendrin, in einem von Zivilisten verlassenen Haus, leben Andrij und Vlad. Vlad ist eigentlich Seemann, hat auf Containerschiffen gearbeitet, Andrij in einer Bank. Als Russland vor gut zwei Jahren die Ukraine überfiel, meldeten sich beide freiwillig – wurden Soldaten. Jetzt sind sie Drohnenpiloten, kämpfen seit ein paar Monaten im Team.
- Zur Reportage: Vom Leben und Töten an der Ukraine-Front. Zu sehen auch im BR Fernsehen am 9. Juni 2024 um 23.05 Uhr
Abwarten und Kämpfen: Alltag an der Front
In ihrer kleinen Unterkunft checken sie ihre Drohnen und Granaten. Kiloweise Technik und Sprengstoff befinden sich direkt neben dem Schlafplatz. Die Männer sollen jederzeit zum Einsatz bereit sein.
Der Krieg in der Ukraine ist auch zu einem Drohnenkrieg geworden. Sie sind überall in der Luft. Das macht die Situation für Soldaten besonders gefährlich. "Wenn Du eine Drohne siehst, schieß sofort auf sie", sagt der 27-jährige Vlad. "Das Letzte, was du tun solltest, ist, dich hinter einem Baum zu verstecken oder so zu tun, als wärst du ein Busch oder so. Ich habe so etwas beobachtet, also nein. Am effektivsten ist es, zu rennen und zurückzuschießen." Es sei die einzige Möglichkeit, sich zu retten.
Vlad sieht müde aus, angespannt, aber auch konzentriert, als er seine Drohnenausrüstung kontrolliert. Auf heftige Einsätze an der Front folgen immer wieder Wartezeiten. Sein Leben als Soldat besteht aus Todesangst und Langeweile, aus Abwarten und Kämpfen, Nichts-Tun und Töten.
Verlust und Schmerz: Der Krieg hinterlässt Spuren
Auch sein Kamerad Andrij ist müde. Er kämpft, seit Russland 2022 die gesamte Ukraine überfallen hat. Viele von denen, die wie er seit über zwei Jahren an der Front sind, sind tot. Zweimal wurde Andrij im Kampf schwer verwundet, musste operiert werden. "Es ist klar, dass wir müde sind", sagt Andrij. Er sei müde, nicht mehr gesund. Er nehme jeden Abend und jeden Morgen Schmerztabletten. "Ich sehe jung aus, aber ich habe fast keine Wirbelsäule mehr. Alle meine Gelenke sind kaputt. Ich sehe schlecht, trage Kontaktlinsen. Ich kann mit einem Ohr nicht hören, mit einem Auge nicht sehen."
Schlafentzug, Verlust, Schmerz. Über 800 Tage russischer Angriffskrieg haben seine Spuren hinterlassen. "In diesem Krieg musst du wirklich Glück haben, erschossen zu werden. Das heißt, dass du hübsch in deinem Grab aussehen wirst", sagt Andrij. Er lacht. Doch dann wird er sehr ernst. Ohne dieses Glück könne es passieren, dass es überhaupt kein Grab gibt. "Viele meiner Freunde wurden in einem geschlossenen Sarg begraben, weil nicht viel von ihnen übrig war."
Brutale Realität: "Wir werden Leute brauchen, die uns ersetzen"
Der 36 Jahre alte Andrij wirkt nachdenklich, als er über seine Erfahrungen an der Front berichtet. "Man kann nicht alles im Fernsehen zeigen oder erzählen", sagt er. Vieles sei für die Menschen weit weg von der Front viel zu brutal. "Und so entwickeln Zivilisten ein 'richtiges', 'korrektes' Bewusstsein vom Krieg." Es würde suggeriert, dass es Regeln gebe, nach denen Kriege ablaufen. Aber das sei nicht so. Die Realität sei sehr viel brutaler.
"Leute wie ich, die 2022 oder 2023 zu kämpfen begonnen haben, werden früher oder später entweder körperlich oder geistig am Ende sein", sagt Andrij. "Wir werden Leute brauchen, die uns ersetzen." Vor allem, wenn der Krieg noch Jahrzehnte lang andauere. "Jeder wird kämpfen müssen, darauf müssen wir vorbereitet sein." Er verstehe nicht, warum sich ukrainische Zivilisten nicht darauf vorbereiten, "keine medizinischen Kurse besuchen, nicht trainieren, keine Waffen studieren."
Gespaltene Gesellschaft: "Sie sind nicht interessiert"
Der Krieg spaltet die ukrainische Gesellschaft: in diejenigen, die kämpfen, mit ihren aktiven Unterstützern und die anderen. Von denen wünscht sich auch Vlad mehr Unterstützung. Selbst enge Freunde von früher hätten sich von ihm abgewendet, sagt er. Aus dem Leben vor seinem Einsatz als Soldat sei nur noch ein Freund übrig.
"Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, haben sie seit zwei Jahren nicht mindestens 'wie geht es dir?‘ geschrieben", sagt Vlad. Er könne das nicht verstehen. "Es ist eine Schande. Sie sind Freunde aus der Schule und Freunde aus der Uni. Na ja, sie galten als Freunde. Wir haben viel zusammen erlebt. Prüfungen, Partys, jede Art von Spaß. Sogar ein paar traurige Erlebnisse haben wir zusammen durchlebt. Aber nichts. Sie schreiben einfach nicht, sie sind nicht interessiert."
Manchmal träumt auch Vlad von seinem Leben nach dem Kriegsende. "Ich glaube, ich möchte einfach nur in die Karpaten gehen, meine Freunde, meine Familie mitnehmen und mich dort einfach nur ausruhen", sagt er.
Aber nur wenige Tage nach diesem Satz schickt er eine Nachricht: Er lebt jetzt im Schützengraben, mitten im Schlachtfeld, an einem der heftigsten, umkämpften Orte des Krieges.
im Audio: Susanne Petersohn hat einen Dokumentarfilm über den Ukrainekrieg gedreht
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