Mit einem emotionalen Rückblick auf die Geschichte und einem Aufruf zu noch engerer Zusammenarbeit in Zukunft haben Spitzenpolitiker aus Deutschland und Frankreich am Sonntag die 60-jährige Freundschaft beider Länder gefeiert.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dankte Frankreich für seine Freundschaft. "Danke, Herr Präsident – danke aus ganzem Herzen", sagte Scholz am Sonntag in Paris auf Französisch an Staatschef Emmanuel Macron gewandt. Auch den Franzosen er: "Danke Ihnen, unseren französischen Brüdern und Schwestern, für Ihre Freundschaft", so Scholz bei einem Festakt der Parlamente beider Länder weiter.
Scholz: Europa muss sich für eine Zeitenwende rüsten
Scholz betonte die Notwendigkeit eines souveränen Europas, für das beide Länder gemeinsam arbeiteten. "Indem wir unsere Kräfte dort bündeln, wo die Nationalstaaten allein an Durchsetzungskraft eingebüßt haben – bei der Sicherung unserer Werte in der Welt, beim Schutz unserer Demokratie gegen autoritäre Kräfte. Aber auch im Wettbewerb um moderne Technologien, bei der Sicherung von Rohstoffen, bei der Energieversorgung oder in der Raumfahrt", sagte er.
"Womöglich stehen wir vor einer noch viel größeren Zeitenwende. Einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt, der wir nicht mit dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus begegnen können", erläuterte Scholz weiter. Man könne sich "kein kleines, verzagtes Europa" mehr leisten, das sich nationalen Egoismen hingebe und Gräben aufreiße zwischen Ost und West, Nord und Süd".
"Kompromissmaschine" für "gleichgerichtetes Handeln"
"Der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine – gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit", so Scholz. "Seinen Antrieb bezieht er nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik. Sondern aus unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleichgerichtetes Handeln umzuwandeln."
Es sei normal, dass es wegen unterschiedlicher Strukturen der Politik und Wirtschaft sowie anderen historischen Erfahrungen immer wieder Differenzen gebe, sagte der Kanzler mit Blick auf Meinungsverschiedenheiten etwa in der EU-Finanz- und Industriepolitik. Gerade deshalb seien Lösungen aber auch für andere akzeptabel.
"Nur mit dem anderen an unserer Seite – als Freund und engstem Partner, als couple fraternel – hat auch unser eigenes Land eine gute Zukunft." Als Beispiel nannte er die bilaterale Abstimmung in der Pandemie mit der Einrichtung eines europäischen Wiederaufbaufonds. Deutschland liefere Strom nach Frankreich und Frankreich Gas nach Deutschland.
Weitere Unterstützung "der Europäer" für die Ukraine
Zudem sagte Scholz der Ukraine die bleibende Unterstützung der Europäer zu. "Wir werden die Ukraine weiter unterstützen – solange und so umfassend wie nötig. Gemeinsam, als Europäer – zur Verteidigung unseres europäischen Friedensprojekts".
"Putins Imperialismus wird nicht siegen", sagte Scholz. "Wir lassen nicht zu, dass Europa zurückfällt in eine Zeit, in der Gewalt die Politik ersetzte und unser Kontinent von Hass und nationalen Rivalitäten zerrissen wurde." Dafür stünden nicht zuletzt die vor kurzem in Abstimmung mit den Verbündeten getroffenen Entscheidungen, der Ukraine Schützenpanzer, Spähpanzer und weitere Flugabwehrbatterien zu liefern, sagte Scholz.
Macron: "Pioniere der Neugründung"
Frankreichs Präsident Macron rief Deutschland dazu auf, gemeinsam mit Frankreich "Pioniere der Neugründung unseres Europas" zu werden. Diese Rolle komme den beiden Nachbarstaaten zu, weil sie nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam den Weg der Aussöhnung gegangen seien. Dabei, so Macron weiter, müsse die Europäische Union weiter in die Lage versetzt werden, als "geopolitische Macht" in der Welt aufzutreten.
"Es ist eine immense Arbeit, die noch vor uns liegt, um unser Ziel eines souveräneren, demokratischeren und solidarischeren Europas zu erreichen", sagte Macron. Dabei gehe es um die künftige, umweltfreundliche Energieversorgung, Investitionen in den ökologischen Wandel, eine stärkere Unabhängigkeit bei der Rohstoffversorgung aber auch um Fragen der Verteidigung. Nötig seien eine ambitionierte europäische Industriestrategie, die die Produktion in Europa schütze, sowie eine Strategie "Made in Europe 2030", die Europa zum Vorreiter bei Zukunftstechnologien und der künstlichen Intelligenz mache.
"Für einen Franzosen über Deutschland zu sprechen heißt, über einen Teil von sich selber zu sprechen", sagte Macron, um die besondere Verbindung der beiden Länder zu beschreiben. Macron zitierte dann Goethe: "Zwei Seelen in einer Brust, das sind wir."
Berlin und Paris wollen gemeinsam Panzer entwickeln
Ausdrücklich bekennen sich die Regierungen von Deutschland und Frankreich zur Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers. Nach Vorbild der Ende 2022 erzielten Vereinbarung über den nächsten Schritt beim zukünftigen Luftkampfsystem (FCAS) solle es Fortschritte "in demselben Geist" bei dem Bodenkampfsystem (MGCS) geben. Eine Zusammenarbeit beim Aufbau eines gemeinsamen europäischen Raketenabwehrschirms wird nicht erwähnt.
Beide Regierungen vereinbarten zudem eine engere Kooperation auf einer Reihe weiterer Gebiete. In der Raumfahrt etwa wollen beide einen "autonomen, unabhängigen und kosteneffizienten Zugang" Europas zum Weltraum vorantreiben. Verwiesen wird auf den geplanten Transport der Militärsatelliten SYRACUSE und H2SAT ins All durch die europäische Trägerrakete Ariane 5 Mitte 2023. Beide Regierungen verpflichten sich, Satelliten europäischer Institutionen vorrangig durch europäische Trägerraketen und die Nutzung von Mini-Startgeräten ins All zu bringen. Hintergrund ist der Wettbewerb etwa durch private US-Firmen und die Probleme mit der Nutzung europäischer Raketen aus dem Ariane-Programm.
Die Erneuerbaren Energien sollen "drastisch" ausgebaut und die Kernfusions-Forschung fortgesetzt werden. "Wir werden ein neues deutsch-französisches Forschungsprogramm zu neuen Batterietechnologien ins Leben rufen, bei denen sich unsere Länder bemühen, eine globale Führungsrolle einzunehmen", heißt es zudem.
Deutschland will im Herbst 2023 die Kabinette beider Länder zu einer breiter angelegten Klausurtagung einladen.
Bundeskabinett fast vollzählig in Paris
Zum Jubiläums-Festakt und den anschließenden Beratungen beider Regierungen wurde Scholz von seinem fast kompletten Kabinett nach Paris begleitet. Nur Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) fehlte krankheitsbedingt. In einem zweiten Flugzeug reisten mehr als 100 Mitglieder des Bundestags an, angeführt von Parlamentspräsidentin Bärbel Bas (SPD).
Vor 60 Jahren wurde der Élysée-Vertrag zur Aussöhnung der beiden einstigen Kriegsgegner unterzeichnet. Er gilt bis heute als Grundlage für die deutsch-französische Freundschaft.
Mit Informationen von dpa, AFP und Reuters
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