Wladimir Putin bei einer Gedenkfeier anlässlich des 80. Jahrestages des sowjetischen Sieges in der Schlacht von Stalingrad.
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Wladimir Putin bei einer Gedenkfeier anlässlich des 80. Jahrestages des sowjetischen Sieges in der Schlacht von Stalingrad.

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Stalingrad – Wie der Ukraine-Krieg Erinnerungskultur verändert

Vor 80 Jahren endete die Schlacht um Stalingrad. Das Gedenken an die verheerenden, blutigen Kämpfe ist vielen heute in Russland wichtiger denn je. Das "Nie wieder" hat durch Russlands Angriff auf die Ukraine aber eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Für den russischen Patriotismus ist die Schlacht von Stalingrad bis heute eines der wichtigsten Symbole im sogenannten großen "vaterländischen" Krieg. Hier fand zwischen Juli 1942 und Februar 1943 eines der größten Gefechte des Zweiten Weltkrieges statt. Ein Kampf an dessen Ende die wohl wichtigste Niederlage der deutschen Wehrmacht stand. Es dauerte allerdings sechs Monate lang, bis die Rote Armee deutsche Truppen besiegte.

Die Schlacht begann im Juli 1942 und dauerte 200 Tage, mit zermürbenden Bombardierungen und Häuserkampf zwischen deutschen Soldaten auf der einen und sowjetischen Soldaten und Zivilisten auf der anderen Seite. Die sowjetischen Truppen hatten von Stalin den strikten Befehl erhalten, "keinen Schritt zurückzuweichen".

Wer zurückwich, würde erschossen werden, drohte Stalin. Die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten geht in die Millionen und markiert die erste große Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Was in Russland seit nunmehr 80 Jahren als das Ereignis hervorgehoben wird, das Europa vor Adolf Hitler rettete.

Putins absurde Propaganda

Ein Aspekt, der angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine heute im Sinne der Moskauer Propaganda eine ganz besondere Rolle spielt. Es sei zwar unglaublich, meint Präsident Wladimir Putin, aber Russland werde heute wieder von deutschen Panzern bedroht. Was nicht ohne Antwort bleiben würde.

Ähnlich äußert sich auch der russische Außenminister Sergej Lawrow. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Westen warf Lawrow vor, Russland zerstören zu wollen. Die Parallelen, die Präsident Putin und sein Außenminister in diesem Zusammenhang zwischen der historischen Abwehrschlacht seines Landes gegen Nazi-Deutschland und dem aktuellen Konflikt zieht, sind denkbar absurd. Gleichwohl nahezu überall präsent.

Wolgograd ist geprägt von der Erinnerung an die eigene Geschichte

Dementsprechend wird der Gedenktag im ehemaligen Stalingrad, das im Rahmen der Entstalinisierung 1961 in Wolgograd umbenannt wurde, von Putin und seinen treuen Anhängern nun propagandistisch ausgeschlachtet.

Die heutige Millionenstadt ist geprägt von der nostalgischen Erinnerung an die Sowjetunion, was ein blühendes Geschäft für den Geschichtstourismus bedeutet. Über der Stadt thront ein Denkmal für die Schlacht, genannt "Das Mutterland ruft". Die 85 Meter hohe Frauenfigur hält ein Schwert. Die Vergangenheit ist in Wolgograd allgegenwärtig. Das Gedenken und Erinnern an die verheerenden, blutigen Kämpfe ist vielen heute wichtiger denn je. Das "Nie wieder" hat durch Russlands Krieg in der Ukraine in Wolgograd indes eine neue Bedeutung bekommen, die an alten Wunden rührt.

  • Zum Artikel: "In Russland gibt keiner Fehler zu": Putins Probleme mit Kritik

"Nie wieder Krieg" hieß es erst 2015

Besonders deutlich wird dies bei der Kriegsgräberstätte Rossoschka, vor den Toren Wolgograds. Die Atmosphäre ist beklemmend. Obwohl dieser Ort eigentlich für Frieden und Aussöhnung steht. Doch die Gegenwart hat die Geschichte längst eingeholt. Gleichgültig wie euphemistisch auch immer die aktuelle militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine vom Kreml bezeichnet wird: Der Krieg ist zurück.

Und zwar ungeachtet aller Mahnungen, die bei der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Kriegendes am 7. Mai 2015 in Wolgograd auch von Frank-Walter Steinmeier geäußert wurden. Und zwar als der russische und der damalige deutsche Außenminister Steinmeier angesichts der Kämpfe in der Ostukraine von der großen Verantwortung sprachen, es nie wieder zu einem Krieg in Europa kommen zu lassen.

"Nie wieder sollen Menschen einander solch unmenschliches Leid zufügen." Frank-Walter Steinmeier

Deutschland als altes, neues Feindbild der Russen

Heute ist eine ähnliche gemeinsame Gedenkfeier undenkbar. Der Tonfall zwischen Moskau und jenen Staaten, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilen wird von Woche zu Woche schärfer. Nicht nur die wortgewaltigen russischen Meinungsmacher werfen den Deutschen mit Blick auf die Entscheidung, Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken, vor, geschichtsvergessen zu sein.

Die Propaganda erfasst auch große Teile der russischen Bevölkerung. Viele sind fest davon überzeugt, dass Deutschland auch im Hinblick auf die Panzerlieferungen jetzt sein wahres, faschistisches Gesicht zeige. Der Tenor: Es sei gut gewesen, dass die Schlacht von Stalingrad den Siegeszug gegen die Nazis eröffnete. Aber es sei bedauerlich, dass man die Faschisten nicht komplett vernichtet habe. Und weil es die Großväter in Russland eben nicht geschafft hätten, müssten es nun die Kinder und Enkelkinder richten. Russland – so heißt es - wolle nur den Faschismus zerstören. Das sei alles und nicht mehr.

Ein Angriffskrieg als Kampf gegen angeblichen "Faschismus"

Dass Russland im Nachbarland Ukraine gegen die Wiederkehr des Faschismus kämpft. Gegen ein aggressives Amerika. Ein aggressives Deutschland. Und gegen einen verdorbenen Westen. Davon ist auch Tatjana Prikaztschikowa überzeugt. Für die Pressebeauftragte des Museums der Schlacht um Stalingrad, die sich intensiv mit Geschichte beschäftigt hat, tut Russland das, was Deutschland damals nicht getan habe. Man wehre den Anfängen. Natürlich sei Krieg furchtbar, betont sie. Gleichzeitig sagt sie aber: "Es gibt Übel, die größeres Übel verhindern."

An jener Stelle in der mächtigen Ruhmeshalle auf dem Mamajew-Hügel in Wolgograd, an der frühere Außenminister Steinmeier 2015 "Nie wieder" ins Gästebuch schrieb, legen nun junge Männer in Kampfmontur Blumen vor der ewigen Flamme nieder. Vor der monumentalen Statue von Mutter Heimat werden sie verabschiedet: in einen Krieg, der offiziell weiter militärische Spezialoperation heißt.

Moral und Kampfgeist seien gut, sagt einer der Freiwilligen der Gruppe Stalingrad der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Alles für die Front. Alles für den Sieg. Steht auf dem Mamajew Hügel in Stein gemeißelt. Jemand hat eine rote Nelke davor niedergelegt.

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