Zivilisten fliehen aus Irpin bei Kiew
Bildrechte: pa/ Wolfgang Schwan / Anadolu Agency

Zivilisten fliehen aus Irpin bei Kiew

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Ukraine: Verzweifelte Fluchtversuche aus belagerten Städten

Tausende Ukrainer versuchen aus belagerten Städten zu fliehen und die ukrainische Regierung rechnet mit einem baldigen russischen Großangriff auf Kiew: Während die Lage im Land weiterhin prekär bis katastrophal ist, laufen diplomatische Bemühungen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine sind erstmals Hunderte Zivilisten bei einer abgestimmten Evakuierung aus einer umkämpften Stadt gerettet worden. Nach einer Feuerpause startete am Dienstag eine Fahrzeugkolonne mit Einwohnern aus Sumy im Nordosten der Ukraine.

Für andere eingeschlossene ukrainische Städte gelang es bislang nicht, sichere Fluchtkorridore einzurichten. Beide Seiten warfen sich gegenseitig Sabotage vor. Angaben über russische Angriffe auf flüchtende Menschen entsprechen aus Sicht der Nato der Wahrheit. "Es gibt sehr glaubwürdige Berichte, dass Zivilisten bei der Evakuierung unter Beschuss geraten", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Rotes Kreuz: "Grauenhafte" Lage für Menschen in Mariupol

Videoaufnahmen aus Sumy zeigten Busse, die über eine verschneite Straße die Stadt im Nordosten des Landes verließen. Ihr Ziel sei die Stadt Poltawa, teilte die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk mit. Zuvor starben in Sumy bei russischen Angriffen in der Nacht nach Behördenangaben mindestens 21 Menschen, unter ihnen zwei Kinder.

Geplant war auch eine Evakuierung aus der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer. Der stellvertretende Bürgermeister von Mariupol sagte jedoch, Russland beschieße die Sammelplätze für Zivilisten. "Daher können wir im Moment keine dauerhafte Waffenruhe und keine Sicherheitsroute einrichten", sagte Serhiy Orlow der BBC. Einige Routen seien blockiert, andere vermint. Die Stadt ist seit Tagen ohne Wasser, Strom und Telefon.

Die strategisch wichtige Hafenstadt wird seit Tagen von russischen Truppen belagert. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erklärte, die Bewohner von Mariupol befänden sich in einer "grauenhaften" Lage. Es fehle an Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung, sagte IKRK-Medienchef Ewan Watson in Genf.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Dienstagmorgen erklärt, es habe "Garantien" für die Evakuierung der Bewohner von Mariupol gegeben, die aber "nicht funktioniert" hätten. Selenskyj hatte Russland bereits am Montagabend vorgeworfen, alle vorherigen Evakuierungsversuche verhindert zu haben. Kreml-Chef Wladimir Putin hatte hingegen wiederholt "ukrainische Nationalisten" beschuldigt, die Evakuierungen umkämpfter Städte zu vereiteln.

Russland hatte am Montag örtliche Feuerpausen sowie die Einrichtung von Fluchtwegen für Zivilisten aus mehreren umkämpften Städten in der Ukraine angekündigt. Die Wege sollten jedoch zumeist nach Russland oder Belarus führen. Die Ukraine lehnte diese Fluchtkorridore ab, Verhandlungen beider Seiten führten zu keinem Durchbruch.

Fluchtversuche aus Irpin und Butscha

Der Gouverneur der Region Kiew, Oleksij Kuleba, sagte, es würden Vorkehrungen zur Evakuierung der Menschen aus dem Vorort Irpin getroffen. Reportern zufolge versuchten dort bereits Hunderte Zivilisten, sich über eine inoffizielle Route in Sicherheit zu bringen. Russland hatte es nach ukrainischen Angaben bislang abgelehnt, in Irpin einen Fluchtweg einzurichten.

Auch in Butscha vor den Toren Kiews versuchten Menschen verzweifelt, die Stadt zu verlassen. Eine Einwohnerin sagte, die Stadt stehe kurz vor einer "humanitären Katastrophe": "Es gibt kein Gas mehr, kein Wasser, keinen Strom und auch die Lebensmittel gehen aus."

Ukraine rechnet mit Großangriff auf Kiew

Dem ukrainischen Generalstab zufolge zieht Russland weiterhin Soldaten und militärische Ausrüstung an den Fronten in Kiew, Mariupol und Charkiw im Nordosten zusammen. Die ukrainische Regierung rechnet mit einem baldigen russischen Großangriff auf die Hauptstadt.

Russland ist nach US-Angaben inzwischen mit nahezu allen für den Einmarsch in die Ukraine vorgesehenen Truppen in das Land eingerückt. Nach westlichen Angaben hatte Russland vor Beginn seines Angriffs auf die Ukraine mehr als 150.000 Soldaten an den Grenzen aufmarschieren lassen.

Der Chef des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, William Burns, sagte düstere Wochen voraus. "Ich glaube, Putin ist im Moment wütend und frustriert", sagte er bei einer Anhörung im US-Kongress. Putin werde wahrscheinlich "noch einen draufsetzen und versuchen, das ukrainische Militär ohne Rücksicht auf zivile Opfer zu zermalmen". Die nächsten paar Wochen würden vermutlich "hässlich", und die Kämpfe in den Städten noch schlimmer als bisher.

Selenskyj würde über Krim und Donbass verhandeln

Der ukrainische Präsident hat sich überraschend zu Gesprächen über den Status der Separatistengebiete im Osten des Landes und der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim bereit gezeigt. Im US-Sender ABC machte Selenskyj zugleich deutlich, dass er nicht auf Forderungen aus Moskau eingehen werde, die Unabhängigkeit der selbst ernannten "Volksrepubliken" sowie die russische Herrschaft über die Krim anzuerkennen. "Ich bin bereit für einen Dialog. Aber wir sind nicht bereit für eine Kapitulation", so Selenskyj.

Diplomatische Bemühungen von Deutschland, Frankreich und China

Deutschland, Frankreich und China wollen in enger Zusammenarbeit auf ein Ende des Krieges hinwirken. In ihrer Videokonferenz seien sich Kanzler Scholz, Frankreichs Präsident Macron und Chinas Präsident Xi Jinping einig gewesen, alle Verhandlungen zu unterstützen, die auf eine diplomatische Lösung des Konflikts gerichtet seien, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Laut dem chinesischen Staatsfernsehen sagte Xi: "Es ist wichtig, eine Eskalation der Spannungen oder einen Kontrollverlust zu vermeiden."

UN: Über zwei Millionen Flüchtlinge aus Ukraine

Nach UN-Angaben stieg die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine in die Nachbarländer inzwischen auf über zwei Millionen. Die meisten Menschen seien nach Polen sowie nach Ungarn, Rumänien, Moldau und in die Slowakei gegangen, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Nach Angaben der UN-Organisation für Migration waren darunter gut 100.000 Menschen aus Drittstaaten. Die Zahl der in Deutschland angekommenen Kriegsflüchtlinge ist auf 64.604 gestiegen, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums mit. Da es an den EU-Binnengrenzen keine stationären Kontrollen gebe, könne die tatsächliche Zahl bereits wesentlich höher sein.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!