"Die republikanische Welle baut sich schnell auf" – so lautete der Titel einer CNN-Analyse Ende Mai. Mit dieser Einschätzung war der Sender nicht allein: Viele Beobachter waren sich vor Wochen noch sicher, dass den Demokraten und US-Präsident Joe Biden eine schallende Niederlage bei den Midterm-Elections bevorsteht, den Zwischenwahlen in den USA.
Von einem möglichen Erdrutsch-Sieg, einer Welle oder gar von einem Tsunami war die Rede, mit dem die Republikaner das Repräsentantenhaus und den Senat erobern würden. Jetzt, knapp sechs Wochen vor der Wahl, ist die Lage eine andere. Doch seinerzeit gab es mehrere Gründe, warum es nach einem republikanischen Triumph aussah:
Grund 1: Die Tradition der Midterms
Von einem "Zwischenwahl-Fluch" ist teilweise die Rede, wenn es um das Ergebnis der Partei geht, die den Präsidenten stellt. "Die Partei, die das Weiße Haus hält, verliert in den allermeisten Fällen bei den Midterms", erklärt Shana Kushner Gadarian, Professorin für Politikwissenschaft an der Syracuse University, im Gespräch mit BR24. Das Schicksal erlitten Donald Trump wie Barack Obama und unzählige Präsidenten vor ihnen.
Seit 1946 gab es nur eine einzige Zwischenwahl, bei der die Partei des amtierenden Präsidenten sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat zulegen konnte: George W. Bush im Jahr 2002 – ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September.
Die Gründe dafür: Die Midterms haben eine geringere Wahlbeteiligung als die Präsidentschaftswahlen und sie scheinen seit Jahrzehnten vorwiegend die Menschen verstärkt anzuziehen, die unzufrieden mit der Arbeit des Präsidenten sind; während Teile seiner Anhänger wissen, dass er unabhängig vom Ergebnis im Amt bleibt – und die Partei deswegen Schwierigkeiten hat, sie zu mobilisieren. Zudem gehen die Zustimmungswerte der Präsidenten ebenfalls in der Regel nach unten während der ersten zwei Jahre.
Im Fall von Joe Biden kommt für die Demokraten erschwerend hinzu: Im Senat müssen die oppositionellen Republikaner nur einen Sitz hinzugewinnen, auch im Repräsentantenhaus ist die demokratische Mehrheit mit neun Sitzen klein. Es braucht also nicht mal eine republikanische Welle – ein paar Stimmen mehr würden reichen.
💡 Worum geht es bei den Zwischenwahlen?
Bei den Midterm-Elections wählen die US-Amerikaner das Repräsentantenhaus, ein Drittel des Senats und zahlreiche Gouverneure (vergleichbar mit Ministerpräsidenten) neu. Die Wahlen finden Anfang November statt, zur Halbzeit einer Präsidentschaft. Das Repräsentantenhaus hat 435 Mitglieder und wird alle zwei Jahre neu gewählt, also bei den Midterm-Elections genauso wie bei Präsidentschaftswahlen. Aktuell haben die Demokraten hier eine Mehrheit von neun Sitzen.
Der Senat besteht aus 100 Mitgliedern, die auf sechs Jahre gewählt werden. Jeder Staat stellt zwei Senatoren, unabhängig von der Bevölkerungsgröße - Kalifornien (ca. 40 Millionen Einwohner) hat genauso zwei Senatoren wie Wyoming (ca. 580.000 Einwohner). Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Gegenwärtig steht es im Senat 50 zu 50. Kommt es zum Gleichstand, entscheidet die Stimme der Vize-Präsidentin, die der Demokratin Kamala Harris. Die Demokraten haben im Senat also eine faktische Mehrheit.
Grund 2: Die Wirtschaft und die Inflation
"Die Wirtschaft weist eine gemischte Bilanz auf", erklärt Politikwissenschaftlerin Kushner Gadarian. Zwar ist die Arbeitslosenquote gering, aber die Inflation ist auch in den USA enorm hoch: Im Juni lag sie über neun Prozent, seit März ist sie konstant über acht Prozent. Die Lebenshaltungskosten gehen nach oben, besonders die hohen Benzinpreise sorgten für Ärger in der Bevölkerung.
Die Biden-Regierung schien das Problem lange zu unterschätzen. Man ging von einem vorübergehenden Phänomen aus, verwies auf die Problematik bei den Lieferketten. Erst spät schien Biden zu merken, wie viel sozialer Sprengstoff in dieser Thematik liegt. Die US-Notenbank FED reagierte ebenfalls erst spät und hob den Leitzins an, um auf die steigende Inflation zu reagieren. Auch wenn die Regierung keinen Einfluss auf die Arbeit der FED hat – die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wurde größer.
- Zum Artikel: US-Notenbank Fed erhöht Leitzins erneut deutlich
Grund 3: Bidens schlechte Umfragewerte
Damit verbunden gingen auch Bidens Zustimmungswerte weiter in den Keller. Dies war ein Trend, der mit dem chaotischen Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan begann. Seitdem ging es für Biden fast stetig bergab.
Ende Juli hatte Biden Zustimmungswerte von unter 38 Prozent, ähnlich schlecht wie Donald Trump zu manchen Zeiten seiner Präsidentschaft. Das lag allerdings nicht nur an der Inflationsspirale. Die Demokraten hätten nicht die Politik gemacht, die sie angekündigt haben, erklärt Kushner Gadarian von der Syracuse University. "Es gab viele Momente, in denen es so aussah, als würden sich die Demokraten selbst bekämpfen." Biden schaffte es nicht, sein 3,5-Billionen-Dollar teures Klima- und Sozialpaket durch den Kongress zu bringen, obwohl seine Partei die Kontrolle in beiden Kammern hat. Er scheiterte an innerparteilichen Kritikern im Senat.
Hinzu kamen unglückliche Auftritte bei Pressekonferenzen und schon früh die Debatte, ob es für Land und Partei nicht besser wäre, wenn Biden 2024 – dann wird er 81 Jahre alt sein – nicht mehr antreten wird.
Warum die Demokraten vor einem Comeback stehen könnten
So gingen Beobachter noch Anfang Juni davon aus, dass die Midterms zu einem Desaster für die Demokraten und Biden werden könnten. Große Mehrheiten für die Republikaner in beiden Kammern drohten. Doch die Lage hat sich geändert – und das innerhalb weniger Wochen. Inzwischen sieht es aus, als könnten die Demokraten einen Teilerfolg feiern und zumindest den Senat halten.
Laut dem Portal "FiveThirtyEight" von Statistik-Guru Nate Silver liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Demokraten den Senat halten, bei inzwischen 70 Prozent. Anfang Juni lag sie noch bei 40 Prozent. Zugleich sieht es jedoch weiter danach aus, dass die Republikaner zumindest das Repräsentantenhaus erobern. Hier geht "FiveThirtyEight" von einer 69-prozentigen Wahrscheinlichkeit aus – allerdings ein deutlicher Rückgang von 88 Prozent noch Mitte Juni. Die Demokraten hoffen darauf, dass dieser Trend sich fortsetzt.
Sollten die Demokraten den Senat halten, dürfte schon das als Erfolg gewertet werden. Wie kam es dazu?
Grund 1: Politische Erfolge
Biden schaffte es, zumindest Teile seine Agenda durchzubringen. Ein abgespecktes Gesetzespaket schaffte es nach langen innerparteilichen Verhandlungen durch den Senat. Darin enthalten: Maßnahmen gegen den Klimawandel, moderate Steuererhöhungen für Gutverdiener, Preissenkung für Medikamente. Weit weg von seinen ursprünglichen 3,5-Billionen-Dollar-Plan, aber genug, um die Parteibasis vorübergehend zu befrieden. "Es geht in erster Linie um ein Zeichen: Sie setzen etwas von dem um, was sie angekündigt haben", sagt Politik-Professorin Kushner Gadarian.
Als weitere Erfolge Bidens gelten, dass der Kongress eine zumindest minimale Verschärfung des Waffenrechts verabschiedete; ferner der Chips-Act, der die amerikanische Wirtschaft gegenüber China stärken soll; und dass der Präsident per Dekret in großem Ausmaß Studienkredite erließ. Was den Demokraten ebenfalls enorm hilft: Die Inflationsspirale scheint gestoppt und die Benzinpreise sind nach unten gegangen.
Diese Erfolge zeigen sich an Bidens Zustimmungswerten – die haben sich zumindest leicht von den Tiefständen im Juni erholt und liegen inzwischen bei über 42 Prozent.
Grund 2: Der Supreme Court und das Thema Abtreibung
Eine andere Ursache für die Mobilisierung auf demokratischer Seite ist eine Gerichtsentscheidung. Für viele Konservative ging ein langersehnter Wunsch in Erfüllung, als der Supreme Court Ende Juni "Roe vs. Wade" kippte - eine Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1973, die das Recht auf Abtreibung verankerte. Möglich wurde dies, weil es im Höchsten Gericht inzwischen eine konservative Mehrheit von 6 zu 3 gibt. Trump hatte während seiner Präsidentschaft drei Richterposten am Supreme Court neu besetzen können. Nun können die Staaten Gesetze verabschieden, die das Recht auf Abtreibung massiv einschränken oder gar verbieten können – selbst bei Fällen von Vergewaltigung oder Inzest, wie es manche konservativen Politiker fordern.
Doch während auf der einen politischen Seite laut gejubelt wurde, war das Entsetzen auf der anderen groß. "Diese Entscheidung hat demokratische Wähler richtig mobilisiert", sagt Kushner Gadarian. Die Zahl der Wählerregistrierung auf demokratischer Seite schoss in die Höhe, besonders bei jungen Frauen.
Wie sehr das Thema Auswirkungen haben kann, zeigt Kansas. Im als sehr konservativ geltenden Staat stand ein Verfassungszusatz zur Wahl, der das Recht auf Abtreibung abgeschafft hätte. Mit deutlicher Mehrheit lehnten die Wähler ihn ab.
Grund 3: Trumps Einfluss auf die Kandidaten der Republikaner
Aber es sind nicht nur legislative Erfolge und das Thema Abtreibung. Unfreiwillige Hilfe bekommt er zudem von seinem größten Gegner: Donald Trump. Der hat die republikanische Partei immer noch fest im Griff. Vor allem hat Trump großen Einfluss auf die Aufstellung der Kandidaten: Hebt Trump den Daumen, gewinnt sein Kandidat meistens die innerparteilichen Vorwahlen. In den Abstimmungen gegen den Demokraten steht damit auch meistens jemand, der die Lüge der gestohlenen Wahl propagiert. Das mag weite Teile der Parteibasis anfeuern, verschreckt aber häufig Wähler der Mitte.
Insgesamt habe die Partei Probleme mit Kandidaten, die "nicht unbedingt die höchste Qualität haben", wie es Politikwissenschaftlerin Kushner Gadarian formuliert. "Viele der republikanischen Kandidaten hatten vorher noch nie ein politisches Amt inne, tun sich schwer mit dem Sammeln von Spenden oder haben sogar die Unterstützung der Parteiführung verloren". Besonders bei den Senatskandidaten in Georgia, Arizona und Pennsylvania sei dies zu beobachten.
Für viele unabhängige Wähler scheint Trump der Grund zu sein, die Republikaner nicht zu wählen. Laut einer Umfrage von NPR und PBS wünschen sich zwei Drittel von ihnen, dass der ehemalige Präsident 2024 nicht noch einmal antritt. Kandidaten bei den Zwischenwahlen, die seine Agenda tragen, dürften es dementsprechend schwieriger haben. Dass Trump selbst bei der Unterstützung von Parteikollegen diese gleichzeitig demütigen kann, zeigte er jüngst in Ohio, als er über Senatskandidat J.D. Vance auf der Bühne sagte: "J.D. is kissing my ass" – Vance würde ihm in den Allerwertesten kriechen.
Aus "Sleepy Joe" wird "Dark Brandon"
Neben diesen Faktoren machen die Demokraten den Eindruck, den Kampf mit den Republikanern auf mehreren Ebenen aufzunehmen. Exemplarisch dafür steht das "Dark Brandon"-Meme. Für Gegner des Präsidenten ist der Ausspruch "Let’s go Brandon" ein Code gegen Biden geworden. Hintergrund ist eine Szene bei einem Nascar-Rennen in Alabama im Oktober 2021: Deutlich war dort zu hören, wie Zuschauer "Fuck Joe Biden" riefen. Ein NBC-Reporter sagte stattdessen, die Fans würden "Let’s Go Brandon" rufen, um den Nascar-Fahrer Brandon Brown zu feiern. Seitdem ist "Let’s Go Brandon" ein Begriff, um seine Abneigung gegen Biden zu zeigen. Bewegt man sich in den USA außerhalb der großen Städte, findet man ihn auf Autos, Fahnen und Mützen.
Doch die demokratische Seite hat sich die Beleidigung zu eigen gemacht, geändert und zu einem pro-Biden-Ausspruch gemacht. Durch seine Gesetzeserfolge wurden Biden bei seinen Anhängern zu "Dark Brandon", einem Präsidenten, der seine Pläne gegen Widerstände durchsetzt. Sein Pressesprecher fing mit einem "Dark Brandon"-Twitter-Post an, seitdem gibt es zahlreiche Variationen, die den Präsidenten feiern. Von "Sleepy Joe", wie Trump Biden einst verunglimpfte, reden derzeit nur wenige.
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Wendet sich die Partei bei einer Pleite von Trump ab?
Halten die Demokraten den Senat, gilt das bereits als Erfolg. Damit hätte die Partei beispielsweise weiter die Macht, Supreme-Court und Bundesrichter zu bestätigen. Sie könnten jedes aus dem Repräsentantenhaus kommende Gesetz blockieren. Nicht wenige Demokraten haben allerdings noch die Hoffnung, die Mehrheit in beiden Kammern verteidigen zu können.
Und was passiert mit den Republikanern, wenn die Wahl eine Enttäuschung wird? Ob sich die Partei von Trump abwenden wird, bezeichnet Kushner Gadarian als "Millionen-Dollar-Frage". Die Politikwissenschaftlerin ist aber skeptisch: "So lange es keinen klaren Gegenkandidaten gibt, der glaubhaft Chancen hat, 2024 zu gewinnen, werden die Republikaner eher von einer weiteren gestohlenen Wahl sprechen, als sich von Trump abzuwenden."
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