Selbst das Gebäude der Retter ist nur noch ein Schutthaufen. Der Sitz der Katastrophenschutzbehörde Afad im südtürkischen Hatay ist eingestürzt und zum Sinnbild für die Zerstörung im Land geworden. Taschen für Erste Hilfe ragen aus den Trümmern, wie auf Medienfotos zu sehen ist.
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Überlebende verbringen zweite Nacht im Freien
Nach einem der schwersten Erdbeben der letzten Jahrzehnte in der Türkei und Syrien wird das Ausmaß der Katastrophe immer deutlicher. Die Zahlen sind schockierend: Tausende Gebäude sind eingestürzt, mehr als 8.100 Menschen gestorben, mehr als 39.000 Menschen verletzt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten bis zu 23 Millionen Menschen von den Folgen des Bebens betroffen sein.
Die Menschen in den Erdbebenregionen in der Türkei und in Syrien mussten unterdessen die zweite Nacht in Folge im Freien schlafen - und das bei eisigen Temperaturen. Auch in der Nacht zum Mittwoch waren Rettungskräfte mit schwerem Gerät im Einsatz. Zwei Tage nach der Naturkatastrophe schwindet aber die Hoffnung, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden.
Strom und Wasser fehlt, es ist bitterkalt
Viele Menschen sind verzweifelt, aus abgelegenen Regionen kommen Rufe nach mehr Hilfe. Teilweise fehlen Strom und Wasser, Zufahrtswege sind zerstört oder verschneit, es ist bitterkalt. In den sozialen Medien teilen Menschen die mutmaßlichen Standorte ihrer Liebsten.
In der Türkei scheint jeder jemanden zu kennen, der unter den Trümmern begraben ist. Mehr als 50.000 Retter sind im Einsatz – aber ihnen läuft die Zeit davon. Während in der Türkei Hilfe großflächig angelaufen ist, warten viele Betroffene in Syrien auf Rettungsteams.
Gerettetes Baby – noch verbunden mit der toten Mutter
Manchmal passieren kleine Wunder inmitten der großen Tragödie. Im Erdbebengebiet im Nordwesten Syriens wird am Dienstag aus den Trümmern eines Hauses ein Baby gerettet, das durch die Nabelschnur noch mit seiner durch die Katastrophe umgekommenen Mutter verbunden war. Das neugeborene Mädchen ist die einzige Überlebende ihrer Familie, die vor dem Bürgerkrieg geflohen war. Ihr Vater, die drei Schwestern, der Bruder und die Tante können nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.
Das vierstöckige Wohnhaus der Familie im Ort Dschandairis in der Region Afrin stürzte wegen des heftigen Erdbebens am Montag ein. Angehörige suchten daraufhin nach der verschütteten Familie. "Dann haben wir ein Geräusch gehört und wir gruben", erzählt einer von ihnen, Chalil Sawadi, der Nachrichtenagentur AFP. "Wir haben Trümmer weggeräumt und diese Kleine gefunden, gelobt sei Gott."
Im Krankenhaus erhielt das Mädchen Hilfe. "Sie wurde mit vor Kälte starren Gliedern eingeliefert, ihr Blutdruck war gefallen", sagt ihr Arzt Hani Maaruf. "Wir haben erste Hilfe geleistet und ihr Infusionen gegeben, weil sie lange keine Milch bekommen hatte." Das Baby habe zwar Prellungen erlitten, aber der Zustand des 3.175 Gramm schweren Neugeborenen sei stabil, sagt der Arzt. Auch ARD-Korrespondentin Katharina Willinger berichtet bei Twitter von einem geretteten kleinen Mädchen – im Süden der Türkei.
Wachsende Wut: "Wo ist unser Präsident?"
Unterdessen wächst bei vielen Menschen im Erdbebengebiet die Wut. Wenn noch nicht mal die Gebäude der Helfer sicher sind, welche sind es dann? Fragen werden in der Türkei laut, wie es zu der großen Zerstörung kommen konnte – und ob die Regierung ausreichend vorbereitet war.
Im südtürkischen Iskenderun sind die Menschen aufgebracht. "Wo ist unser Präsident?", ruft eine Frau, die um ihre unter den Trümmern begrabene Verwandte bangt, einem türkischen Fernsehteam zu.
Wissenschaftler haben vor Erdbeben gewarnt
Für Experten war das Beben zwischen der Anatolischen und der Arabischen Erdplatte keine Überraschung. An dieser sogenannte Ostanatolische Verwerfungszone sei ein großes Beben überfällig gewesen, sagt Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam.
"Wir haben gerufen, wir haben geschrien und mit den örtlichen Behörden gesprochen", sagt der türkische Geowissenschaftler Naci Görür lokalen Medien. Niemand habe auf die Wissenschaftler gehört. Als er von dem Beben erfahren habe, habe er erst mal geweint.
Die Behörden hätten versäumt, alte Häuser erdbebensicher zu sanieren, kritisiert Nusret Suna von der Istanbuler Bauingenieurskammer. Selbst Gebäude, die nach dem Jahr 1999 gebaut wurden – also nach dem verheerenden Beben in der Nähe Istanbuls mit mehr als 17.000 Toten – seien nicht sicher. Der schwerwiegende Vorwurf: Architekten, Bauunternehmen und andere Verantwortliche ignorierten "ethische Prinzipien und moralische Werte" und agierten oft aus "Profitgier".
"In diesem Land hat niemand irgendwelche Rechte"
Im Göskun in der türkischen Provinz Kahramanmaras harrt ein Ehepaar mit seinem Sohn in Schneiderei der Familie aus. Helfer haben sie noch nicht erreicht, sagen sie der Deutschen Presse-Agentur. Seit dem Beben ernähren sie sich nur von salzigen Keksen und einem Fladen Weißbrot. Ihr Haus ist völlig zerstört, sie können es nie wieder betreten, das ist klar.
"In diesem Land hat niemand irgendwelche Rechte", das werde in der Katastrophe einmal mehr deutlich, sagt der Vater. Keiner kümmere sich um die Armen. "Regiert man so ein Land?", schimpft der Vater und meint den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
In Adiyaman, nahe der syrischen Grenze, fehle es an allem, sagt ein Abgeordneter der prokurdischen Oppositionspartei HDP, Kemal Bülbül. Anwohner hörten Stimmen unter den Trümmern, könnten die Verschütteten aber nicht erreichen. Es fehle an schwerem Gerät, mit dem die Trümmer angehoben werden könnten. Die Supermärkte seien geschlossen, es habe Plünderungen gegeben.
Kalte Temperaturen, fehlende Ausrüstung
Den Rettern in Syrien mache wie auch in der Türkei neben den Temperaturen unter dem Gefrierpunkt auch das Ausmaß der Zerstörung zu schaffen, heißt es von den Weißhelmen. Ihnen fehle zudem Ausrüstung. Die Rettungsorganisation, die in den von Rebellen gehaltenen Gebieten Syriens aktiv ist, vermutet, dass noch immer Hunderte in den Trümmern eingeschlossen sind.
"Wir hören Stimmen unter den Trümmern, aber können den Menschen nicht helfen", sagt ein Mitarbeiter des Zivilschutzes, dessen Team in der Nähe von Aleppo im Einsatz ist. "Wir sind derartige Zerstörungen nicht gewohnt."
Der Tag der Beben sei der schwerste Tag in seinem Leben gewesen, sagt Ahmed Hanura. "Ich habe all die Tage des Krieges in der Stadt Aleppo miterlebt", erzählt der 52-Jährige. Die Stadt wurde bei heftigen Kämpfen stark zerstört und gilt als Sinnbild des Bürgerkrieges. Am Montag beim Erdbeben aber war Hanuras Angst noch größer als damals. Viele seiner Nachbarn seien in ihren eingestürzten Häusern umgekommen, sagt er.
Mit Informationen von dpa und AFP
- Zum Artikel "Erdbeben-Katastrophe: Welche Hilfe jetzt sinnvoll ist"
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