Weil in der Ukraine aktuell Kriegsrecht gilt, sind verfassungsmäßige Freiheiten wie das Wahlrecht eingeschränkt. Eigentlich stünden im März 2024 Präsidentschaftswahlen an. Die Parlamentswahlen im Oktober wurden bereits auf unbestimmte Zeit verschoben. "Ich meine, dass Wahlen jetzt nicht angebracht sind", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj nun am Montag in seiner abendlichen Videobotschaft.
Selenskyj wählte diese Worte in einer Zeit, in der die Diskussion über mögliche Wahlen an Fahrt aufnahm. Der frühere Präsidentenberater Oleksij Arestowitsch kündigte bereits an, gegen seinen ehemaligen Chef antreten zu wollen. Außenminister Dmytro Kuleba erklärte noch Ende vergangener Woche, der Präsident wäge Pro und Kontra zu Abstimmungen ab.
Was spricht für, was gegen Wahlen?
Selenskyj rechtfertigte sein Nein jetzt damit, dass "die Stunde der Verteidigung, des Kampfes" sei, "von dem das Schicksal des Staates und des Volkes abhängt, und nicht für eine Farce, auf die Russland nur wartet". Das Land müsse sich "versammeln und sich nicht spalten".
Das Kriegsrecht war nach dem Einmarsch der russischen Armee Ende Februar 2022 im ganzen Land verhängt worden. Das ukrainische Parlament verlängerte es zuletzt bis Mitte November. Zurzeit sieht das geltende Recht erst Wahlen nach Kriegsende vor.
Herausforderungen: Geflüchtete, Front, besetzte Gebiete
Würden die Wahlen stattfinden, wären sie mit großem Aufwand verbunden. Zum einen sind viele Ukrainer geflohen. Laut den Vereinten Nationen halten sich allein rund acht Millionen ukrainische Geflüchtete in europäischen Staaten auf. Da es innerhalb des Schengen-Raumes nur wenige Grenzkontrollen gibt, sei es schwierig, genaue Zahlen zu ermitteln - für die Durchführung von Wahlen sind diese aber wichtig.
Zum anderen sind weiterhin viele Ukrainer als Soldaten im Einsatz. Eine Wahl an der Front durchzuführen würde große Sicherheitsrisiken bedeuten - für die Wähler, Wahlhelfer und Wahlbeobachter. Ukrainer, die in den von Russlands Truppen besetzten Gebieten leben, wären wohl von der Wahl ausgeschlossen.
Auch finanziell hätte der Schritt Auswirkungen: Selenskyj argumentierte in früheren Wochen, es brauche für Wahlen zu Kriegszeiten Unterstützung aus Europa und den USA. Zurzeit werden finanzielle Hilfen vor allem fürs Militär und Wiederaufbaumaßnahmen gebilligt.
Reaktionen aus dem Bundestag: "Druck nicht angebracht"
Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, stellte auf BR24-Anfrage freie, gleiche und geheime Wahlen als Wesensmerkmal einer Demokratie voran. Allerdings müsse die besondere Lage der Ukraine durch den russischen Angriffskrieg berücksichtigt werden, die sie nicht selbst zu verantworten habe. "Leider müssen wir davon ausgehen, dass diese Ausnahmesituation noch längere Zeit anhalten wird. Insofern ist Druck auf die Ukraine, in nächster Zeit unbedingt Wahlen abzuhalten, nicht angebracht. Jetzt steht im Vordergrund, dass sie ihr Land verteidigt und die territoriale Integrität und Souveränität zurückerhält", erklärte Schmid. Sollte Russland den Krieg gewinnen, werde es auf lange Sicht keine freien und fairen Wahlen in der Ukraine mehr geben, prophezeite er.
"Kann die Reaktion von Selenslyj verstehen"
Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, sieht in der Ukraine eine gefestigte Demokratie. "Ich kann die Reaktion von Präsident Selenskyj verstehen. Angesichts des Krieges, in dem sich die Ukraine unverschuldet befindet, erscheinen gut organisierte Wahlen, an denen sich alle Wahlberechtigten beteiligen können, unrealistisch. Das würde zu viele administrative Ressourcen binden, die für den Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor benötigt werden", teilte er BR24 mit. Er sei fest davon überzeugt, dass die Ukraine nach ihrem Sieg gegen Russland in den normalen Wahlturnus zurückfinden werde und auch die Ukrainer im Donbass und auf der Krim mitstimmen könnten.
Ruf nach Wahlen
Die Wahl-Frage beschäftigt den Westen schon länger. Unter anderem der US-republikanische Senator Lindsey Graham forderte die Ukraine auf, eine Wahl abzuhalten, um zu zeigen, dass das Land auch im Krieg freie und faire Wahlen durchführen könne. Grundsätzlich mehrten sich Stimmen, die für politischen Wettbewerb eintraten. Ein Argument: Was ist, wenn sich die Stimmung in der Bevölkerung dreht und sie den Kurs des amtierenden Präsidenten nicht mehr mitträgt?
Ukrainer lehnen Wahlen während Kriegs mehrheitlich ab
Allerdings sprachen sich Befragte in zwei Umfragen aus dem Oktober mehrheitlich gegen die Abhaltung von Wahlen während des Krieges aus. Einer Veröffentlichung des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie zufolge waren 81 Prozent der befragten Ukrainer für Wahlen erst nach Kriegsende. Für die Abhaltung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gemäß der in der Verfassung festgelegten Fristen waren demnach nur 16 Prozent der Befragten. Zuvor hatten sich in einer Umfrage der Rating Group ebenso 62 Prozent gegen Wahlen in Kriegszeiten ausgesprochen. Etwas mehr als 30 Prozent hielten Urnengänge auch bei andauerndem Krieg für nötig. Beide Umfragen wurden Anfang Oktober telefonisch unter mindestens 2.000 volljährigen Ukrainern im Inland durchgeführt.
Ein Weg für Wahl-Befürworter wäre, das Wahlsystem anzupassen - etwa in Form einer Brief- oder digitalen Wahl. Doch Jan Philipp Wölbern, Leiter des Ukraine-Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, hielt das für schwierig: "In der Ukraine gibt es bislang keine Briefwahl. Ohne Erfahrung kurzfristig ein Briefwahlsystem einzuführen, wäre ein großer Aufwand", sagte er dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" Anfang September. Elektronische Wahlen wiederum seien manipulierbar.
Kein politischer Wettbewerb - keine freie Wahl
Die Ukraine möchte Teil der Europäischen Union werden und versucht für diesen Prozess, demokratische Prinzipien hochzuhalten. Transparency International Ukraine argumentierte vor Selenskyjs Aussagen vom Montag, dass die Ukraine in der Vergangenheit für ihr Wahlrecht gekämpft hatte. Und: Wenn der politische Wettbewerb in Kriegszeiten nicht gewährleistet werden könne, dann seien das auch keine freien Wahlen.
Beobachter können sich vorstellen, dass es bei stattfindenden Wahlen russische Desinformationskampagnen geben könnte. Auch Luftangriffe am Wahltag würden erwartet. Bei aller Kritik, die es an nicht stattfindenden Wahlen gibt: "Wahlen sind ein wichtiger Bestandteil der Demokratie, aber es verstößt nicht gegen internationale Standards, während eines Krieges keine Wahlen abzuhalten", sagte Anastasia Pociumban von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik dem Nachrichtenportal "Watson" im Oktober.
Mit Informationen von dpa, AFP und Reuters
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