Bei der Parlamentswahl in Israel steht der rechtskonservative Oppositionsführer Benjamin Netanjahu offenbar vor einem klaren Wahlsieg. Nach Auszählung von 97 Prozent der Stimmen konnte sich sein rechts-religiöses Lager israelischen Medienberichten zufolge eine Mehrheit von 65 der 120 Sitze im Parlament, der Knesset, sichern.
Likud wird stärkste Partei
Die Likud-Partei des 73-Jährigen, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft, wurde nach Angaben vom Mittwoch stärkste politische Kraft mit 31 Parlamentssitzen. Die Zukunftspartei des bisherigen liberalen Ministerpräsidenten Jair Lapid lag mit 24 Sitzen an zweiter Stelle. Auf den dritten Platz schaffte es zum ersten Mal in der Geschichte Israels ein rechtsextremes Bündnis. Die Religiös-Zionistische Partei von Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir gilt als Königsmacher für Netanjahu.
Unsicherheiten bleiben noch
Allerdings könnten schon kleine Abweichungen im Endergebnis zu einem völlig anderen Kräfteverhältnis in der Knesset führen: Die linksliberale Meretz-Partei sowie die arabische Balad-Partei könnten knapp an der 3,25-Prozent-Hürde scheitern, wovon das Netanjahu-Lager profitieren würde. Kämen sie aber doch in die Knesset, würde sich die Sitzverteilung dort noch ändern.
Die Wahlbeteiligung war bei dieser Parlamentswahl für israelische Verhältnisse hoch. Sie lag mit Schließung der Wahllokale um 21.00 Uhr (MEZ) am Dienstagabend bei 71,3 Prozent der rund 6,8 Millionen Wahlberechtigten.
Netanjahu vor zweitem Comeback
Netanjahu steht damit vor seinem zweiten Comeback auf dem Posten des Regierungschefs. In Israels Geschichte war niemand länger im Amt als er. Der rechtskonservative Politiker war von 1996 bis 1999 Ministerpräsident, danach wieder durchgängig von 2009 bis 2021.
Mit seiner Ablösung im vergangenen Jahr durch Naftali Bennett an der Spitze einer Acht-Parteien-Koalition galt die Ära Netanjahu vorerst als beendet. Die Koalition von Parteien vom rechten bis zum linken Spektrum war jedoch im Juni nach inneren Streitigkeiten zerbrochen. Im Anschluss übernahm Außenminister Lapid den Posten des Regierungschefs.
Vor den Wahlen war ein knappes Rennen zwischen den beiden politischen Lagern erwartet worden, die entweder für oder gegen Netanjahu sind. Das laufende Korruptionsverfahren galt als eine Belastung für den langjährigen ehemaligen Ministerpräsidenten – das Erstarken einer extrem rechten Partei, das Netanjahu gezielt förderte, kam ihm jedoch entgegen.
Vorläufiges Endergebnis nicht vor Donnerstag
Vorläufige Endergebnisse erwartet das Wahlkomitee nicht vor Donnerstag. In ersten Stellungnahmen sprach Netanjahu jedoch bereits von einem "guten Start". Er sei "einem großen Sieg nahe" und werde eine rechte Regierung anführen, sofern die Ergebnisse die Nachwahlbefragungen bestätigten, sagte Netanjahu am Mittwoch vor Anhängern seiner Likud-Partei in Jerusalem.
Wenn das amtliche Endergebnis feststeht, bestimmt Präsident Izchak Herzog, wer den Auftrag zur Regierungsbildung erhält. Der Kandidat hat dann vier Wochen Zeit, eine Koalition zu bilden. Wie nach der Wahl im letzten Jahr könnte es aber Wochen oder Monate dauern, bis eine Regierung steht. Netanjahu hatte damals zuerst den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten, konnte aber keine Koalition schmieden.
Netanjahu strebt ultrarechte-religiöse Koalition an
Netanjahu strebt die Bildung einer ultrarechten-religiösen Koalition an, die ihm bei der Verabschiedung von Gesetzen zur Umgehung einer Verurteilung helfen könnte. Der Wahlkampf war bestimmt von Fragen der nationalen Sicherheit und der auch in Israel spürbaren Inflation.
Netanjahu hatte das Bündnis von Smotrich und Ben-Gvir vermittelt und den Rechtsextremen damit zum Aufstieg verholfen. Ben-Gvir bekräftigte bei der Stimmabgabe am Dienstag, er wolle Minister für Innere Sicherheit werden. Der 46-Jährige wurde wegen rassistischer Hetze verurteilt und spricht sich unter anderem für die Deportation von Arabern aus, "die gegen den Staat Israel sind". Ihm wurde auch immer wieder vorgeworfen, den Konflikt mit den Palästinensern gezielt anzuheizen. Zuletzt zog er bei Konfrontationen in Ost-Jerusalem selbst eine Waffe.
Koalition um Lapid erscheint unwahrscheinlich
Das Anti-Netanjahu-Lager um Lapid schnitt schon in den Prognosen schwächer ab. Es umfasst Parteien vom rechten bis zum linken Spektrum, die der Wille vereint, eine Rückkehr Netanjahus zu verhindern. Es scheint jedoch unwahrscheinlich, dass es Lapid – wie im vergangenen Jahr – gelingt, eine Koalition zu schmieden.
Lapid betonte in der Nacht zum Mittwoch, dass noch "nichts vorbei" sei, bevor nicht alle Stimmen ausgezählt seien. Seine Partei werde weiterhin dafür kämpfen, dass Israel ein jüdischer, demokratischer, liberaler und fortschrittlicher Staat sei.
In seiner Regierung war erstmals auch eine arabische Partei vertreten. Die arabische Minderheit macht etwa 20 Prozent der rund 9,4 Millionen Bürger Israels aus. Ihr wurde vor der Wahl ein großer Einfluss auf das Endergebnis zugerechnet. Der 58-jährige Lapid hatte sich zuletzt deutlich für die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates ausgesprochen.
Lapid und Netanjahu mobilisierten die Wähler
Die beiden politischen Hauptrivalen – Lapid und Netanjahu – kämpften noch am Tag der Wahl um jede Stimme. Netanjahu zeigte sich bei seiner Stimmabgabe noch "etwas besorgt", ob ihm ein Comeback gelingen wird. Auch sein Kontrahent Lapid rief vor Abgabe seiner Stimme zum Wählen auf. Zuvor hatte er das Grab seines Vaters Josef (Tommy) Lapid besucht, eines Holocaust-Überlebenden, der als Journalist und Politiker bekannt geworden war.
Mit Informationen von dpa und Reuters
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