Um es vorwegzunehmen: Nein, zu Handgreiflichkeiten kommt es auch bei dieser Bundestagssitzung nicht. Aber es entwickelt sich am Vormittag doch eine Auseinandersetzung, deren Heftigkeit weit über das im deutschen Parlament übliche Maß hinausgeht. Der Ton war schon lange vor dieser Debatte gesetzt. "Wahlbetrug", Methoden wie aus "Schurkenstaaten": Die Kritik an den Ampel-Plänen zum Wahlrecht war von Anfang an deftig. Und so versucht Sebastian Hartmann, der erste Redner in der Debatte, den Spieß umzudrehen. "Unwürdig" sei eine solche Wortwahl, so der SPD-Politiker: "Sie legen die Axt an den demokratischen Grundkonsens!"
- FAQ zur Wahlrechtsreform: Die Pläne im Einzelnen
CSU nennt Wahlrechtsreform "Akt der Respektlosigkeit"
Eine Verbalattacke, die in erster Linie der CSU gilt. Denn die Christsozialen haben die Reformpläne in den vergangenen Wochen hart kritisiert – und sie tun das auch jetzt. Alexander Dobrindt spricht mit lauter Stimme von einem "Akt der Respektlosigkeit gegenüber den Wählern, gegenüber der Opposition und gegenüber der Demokratie an sich". Der Chef der CSU-Abgeordneten im Bundestag ist überzeugt, dass das Ampel-Vorhaben zwei von drei Oppositionsfraktionen "strukturell benachteiligt": die Linke – und seine eigene. Die Regierungsmehrheit stelle das "Existenzrecht der CSU infrage", empört sich Dobrindt.
Streitpunkt Grundmandatsklausel
Tatsächlich könnten die Pläne weitreichende Folgen haben. Es sollen nur noch so viele Wahlkreisgewinner über das Erststimmenergebnis in den Bundestag einziehen dürfen, wie das Zweitstimmenergebnis der jeweiligen Partei hergibt. Das betrifft vor allem die CSU, die bei der zurückliegenden Bundestagswahl fast alle Direktmandate in Bayern geholt hat – und damit mehr Sitze, als ihr nach Zweitstimmen zugestanden hätten. Für die Linke wiederum könnte der geplante Wegfall der sogenannten Grundmandatsklausel bedeuten, dass sie nach der nächsten Wahl nicht mehr im Bundestag vertreten ist. Denn ihre jetzige Parlamentspräsenz in Fraktionsstärke verdankt die Linke genau dieser Regel.
CSU und Linke kritisieren Ampel-Pläne
Dass sich die CSU für die Linke einsetzt, ist neu. Normalerweise legen die Christsozialen Wert auf größtmögliche Distanz zu den politischen Rändern, ob nun ganz rechts oder ganz links. Doch die Wahlrechtspläne der Ampel lassen CSU und Linke ein Stück weit zusammenrücken. So bescheinigt der Linken-Abgeordnete Jan Korte den Christsozialen eine "in Bayern tief verwurzelte Partei" zu sein, so wie es die Linke bisher in Teilen Ostdeutschlands ist. Und in diesem Charakter einer Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch ähnelt die CSU ja tatsächlich der Linken, bei aller programmatischen Verschiedenheit.
Linke: Wahlrechtsreform ist "Anschlag auf Demokratie"
Auch rhetorisch steht Korte in dieser Debatte seinem CSU-Kollegen in nichts nach. Der Linken-Politiker nennt die Wahlrechtsreform der Ampel einen "Anschlag auf die Demokratie". Die Pläne von SPD, Grünen und FDP seien "vergleichbar mit den Tricksereien der Trump-Republikaner". Und dann schiebt Korte einen Satz nach, der wirklich dem vergifteten politischen Klima in den USA entsprungen sein könnte: "Ich wünsche Ihnen politisch alles erdenklich Schlechte!"
Grüne attackieren CSU
Doch auch die Ampel-Fraktionen rüsten in dieser Debatte verbal auf. Die Co-Fraktionschefin der Grünen, Britta Haßelmann, findet: Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, woran die jahrelange Debatte über eine Wahlrechtsreform gescheitert sei, dann wäre er mit der Rede von Dobrindt erbracht. "Es kann nicht sein", legt Haßelmann nach, "dass die CSU als Regionalpartei dem Deutschen Bundestag diktiert, wie das Wahlrecht aussieht". In den Ampel-Reihen wird sie für diese Worte bejubelt, von den Oppositionsbänken kommen erboste Zwischenrufe.
Das BR24live mit der Bundestagsdebatte zum Nachschauen:
Merz will Abstimmung verschieben
So erbittert wird die Debatte geführt, dass Unionsfraktionschef Friedrich Merz überraschend eine Verschiebung der Abstimmung um zwei Wochen vorschlägt. Er will das als einen Versuch verstanden wissen, ein weiteres Mal über die Streitpunkte zu beraten und doch noch "dem Ziel der gemeinsamen Änderung des Wahlgesetzes näherkommen". Man sei sich schließlich einig darin, "dass wir dieses Parlament verkleinern müssen", sagt Merz mit Blick auf die gegenwärtige Rekordgröße von 736 Abgeordneten.
Doch Rolf Mützenich weist Merz‘ Vorschlag zurück. Der SPD-Fraktionschef gilt in Berlin als die Höflichkeit in Person, und selbst in dieser hitzigen Debatte scheint ihm daran gelegen zu sein, diesem Ruf gerecht zu werden. In der Sache aber lässt er den Unionsfraktionschef kühl wissen, dass genug verhandelt worden sei: "Drei Wochen intensives Ringen wird nicht besser, wenn wir nochmal 14 Tage warten." Ein Teil der Unionsfraktion – gemeint ist die CSU – habe in der Vergangenheit eine Reform verhindert. Deswegen müsse die Koalition jetzt ein neues Wahlrecht schaffen.
Opposition will Bundesverfassungsgericht einschalten
Dann wird abgestimmt – und das Regierungslager setzt seinen Gesetzentwurf mit einfacher Mehrheit durch. Ein Vorgang, den die größte Oppositionsfraktion nicht hinnehmen will. Merz will den Abgeordneten von CDU und CSU vorschlagen, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz vorzugehen. Und Dobrindt kündigt an, dass die bayerische Staatsregierung die Karlsruher Richter einschalten wird. Was auch die Linke vorhat. Im BR-Interview macht Dobrindt deutlich, dass er gute Erfolgschancen für eine Klage in Karlsruhe sieht. Es sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, regionale Besonderheiten im Wahlrecht nicht zu berücksichtigen.
Damit ist klar: Die endgültige Entscheidung über die Wahlrechtsreform fällt nicht im Parlament, sondern vor Gericht. Sollten die Richter das Gesetz kippen, stünde die Ampel düpiert da. Falls die Pläne in Karlsruhe bestätigt werden, wäre das wiederum eine juristische Niederlage für die Opposition. Der politische Streit aber ginge auch dann weiter – daran hat die Union heute keinen Zweifel gelassen. Das Wahlrecht als andauernder Zankapfel: Für die parlamentarische Demokratie wäre es eine Bewährungsprobe.
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